„Early Work“ von Stephen Shore – Ein Blick zurück auf die Anfänge eines Meisters der Fotografie

© Stephen Shore, from Early Work (MACK, 2025). Courtesy of the artist and MACK.

Stephen Shores Early Work* führt zurück in die 1960er Jahre, als der Fotograf noch ein Teenager war. Die bei MACK erschienene Publikation zeigt frühe Schwarzweißaufnahmen aus New York – unscheinbare Straßenszenen, die bereits die Klarheit und Präzision seines späteren Stils andeuten. Ein Buch, das die Wurzeln einer großen Karriere sichtbar macht.

Stephen Shore (geb. 1947) gilt als einer der einflussreichsten amerikanischen Fotografen der Gegenwart.

Bereits als Kind erhielt er 1953 von seinem Onkel ein Kodak-Dunkelkammer-Kit, das seine Leidenschaft für Fotografie weckte

Schon im Vorschulalter experimentierte er mit Schwarzweiß-Fotografien, entwickelte Privatfilme im Badezimmer seiner Eltern und ging mit 14 Jahren auf Drängen des MoMA-Kurators Edward Steichen so weit, dass dieser von ihm insgesamt drei Abzüge seiner New Yorker Straßenszenen erwarb.


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Seine Jugend prägte Shore als „Wunderkind“

Er wuchs als Einzelkind wohlhabender, kulturinteressierter Eltern auf der New Yorker Upper East Side auf.

Mit 17 Jahren verbrachte er viel Zeit im Andy Warhol’s Factory in New York und wirkte in den 1960ern mit an der aufkommenden, kreativen Szene.

Das 2025 bei MACK erschienene Buch Early Work* versammelt erstmals Shores bislang unveröffentlichte Fotografien aus seinen Teenagerjahren (1960–1965).

Es bietet einen seltenen Einblick in den jungen Shore, noch bevor er seine berühmten Farbstudien (Uncommon Places, American Surfaces) realisierte.

Diese frühen Aufnahmen zeigen „bereits ein komplexes Verständnis der Bildsprache und der besonderen Aufmerksamkeit, mit der [Shore] seine Umgebung wahrnahm“.

Das Buch liefert so einen einzigartigen Blick auf „die vibrierende Energie des New York der frühen 1960er-Jahre“ und enthüllt die Motive, die den jungen Fotografen ein Leben lang beschäftigen sollten

Fotografie und Bildsprache

© Stephen Shore, from Early Work (MACK, 2025). Courtesy of the artist and MACK.

Die Bilder in Early Work entstanden, als Shore noch ein Teenager war – technisch sind es zumeist Schwarzweiß-Aufnahmen, aufgenommen mit einer 35-mm-Kamera.

Ohne Farbe konzentriert sich der Blick auf Linien, Kontraste und die Bildaufteilung.

Die Klarheit und Strenge seiner Kompositionen fällt dabei besonders auf: Schon in diesen frühen Bildern operiert Shore mit klarer Linienführung, Fluchtpunkten und einem konsequenten Einsatz des Bildrandes.

Ein prägendes Stilmerkmal ist das von Shore selbst betonte „Rahmen“-Prinzip: Schon im Teenageralter erkannte er intuitiv, dass die Kamera „nicht zeigt, was sie sieht, sondern was sie einrahmt“.

Als er seine Bilder Jahre später wieder entdeckte, stellte er fest:

Von Anfang an gab es ein Verständnis dafür, dass die Kamera nicht zeigt, sie rahmt. […] was der Fotograf tut, ist, den Rahmen zu füllen.
— Stephen Shore

Dies bedeutet konkret: Jedes Detail im Bild, sei es ein Mensch am Rand, ein Straßenschild oder ein Schattenwurf, wird mit gleich großer Aufmerksamkeit behandelt wie das vermeintliche Hauptmotiv.

So erklärt sich etwa, warum oft eher unscheinbare Gesten oder Details in den Fotos hervorstechen.

Shore selbst beschreibt den Unterschied zwischen „Zeigen“ und „Rahmen“: Würde man etwa mit einem Finger auf ein Objekt deuten, lenke das nur punktuell die Aufmerksamkeit. Im Foto dagegen verteilt sich die Aufmerksamkeit „gleichmäßig über das ganze Bildrechteck“.

Dieser Stilzug ist später für Shores gesamtes Œuvre zentral und zieht sich von den frühen New-York-Aufnahmen bis zu seinen großen Farbreisen in den 1970er Jahren.

Die technische Gestaltung unterstreicht diese Herangehensweise: Shore fotografierte meist mit einer Leica und setze gerne weitwinklige Objektive ein. So hielt er die Kamera über den Kopf, um aus ungewöhnlicher Perspektive Menschen auf der Straße zu erfassen.

Diese „Riesenauge“-Perspektive erlaubt einen ausgedehnten Blick auf die Szene, die Details im Vordergrund mit solchen im Hintergrund verknüpft. Zugleich arbeitete er selbständig in einer eigenen Dunkelkammer zuhause, was ihm volle Kontrolle über den Entwicklungsprozess gab.

Shore fotografierte bereits in seinen Anfangsjahren äußerst bewusst und handwerklich versiert.

Die Bildsprache ist insgesamt sachlich und nüchtern, doch gerade durch diese Zurückhaltung wirken die Szenen eindrucksvoll. Die Kompositionen wirken ebenso zufällig wie sorgfältig arrangiert.

Shore inszeniert jede Szene als Kunstwerk

© Stephen Shore, from Early Work (MACK, 2025). Courtesy of the artist and MACK.

Selbst „offene“, improvisierte Motive entfalten eine starke Präsenz im Bild.

Shores frühe Aufnahmen sind Bilder, die sich leise ihren Weg in die Köpfe und die Fantasie der Betrachter bahnen. Sie schreien nicht laut, sondern laden dazu ein, hinzusehen und im vermeintlich Banalen Tiefe zu entdecken. 

Gerade in ihrer stillen Sachlichkeit entfalten die Fotos eine unmittelbare Kraft – weil der junge Shore seinen Blick auf das richtete, was andere leicht übersehen.

Themen und Motive

Thematisch zeigen die Bilder ein Amerika der 1960er Jahre, wie Shore es als Jugendlicher erlebte:

Straßenecken, Passanten, Schaufenster, Läden und Fahrzeuge.

Immer wieder tauchen bekannte Straßenszenen von New York City auf, wie etwa klassische Autos vor Gebäuden, ältere Menschen beim Vorbeigehen oder Passanten in Gespräche vertieft.

Häufig versucht Shore gar nicht, etwas außerordentlich Dramatisches darzustellen.

Jedes Bild muss aus sich selbst heraus Sinn ergeben.
— Stephen Shore

Entsprechend wirken selbst die zufälligsten Situationen durchdacht.

© Stephen Shore, from Early Work (MACK, 2025). Courtesy of the artist and MACK.

Dabei nimmt Shore häufig den Blick eines Beobachters ein, der ohne Vorurteil am Straßenrand steht: Man sieht etwa, wie er Menschen im Vorbeigehen fotografiert, oder sich auf Details konzentriert, die anderen „entgehen“.

In einem Beitrag im “New Yorker” betont Chris Wiley, dass Shores frühe Aufnahmen an Traditionen von Garry Winogrand oder Robert Frank anschließen – auch diese hatten das Banale und Alltägliche am Straßenrand fotografisch aufgeladen.

Zwischen den Bildern lässt sich eine gewisse thematische Kohärenz erkennen.

Viele Aufnahmen drehen sich um das städtische Leben – Ladenfronten, Passanten, Verkehr.

Auch das Motiv der amerikanischen Schilderwelt kehrt immer wieder: Reklametafeln, Straßenschilder, Litfaßsäulen dienen nicht nur als Bühnenbild, sondern weisen auf kulturelle Eigenheiten hin.

Dies deutet bereits den späteren Schwerpunkt auf Americana an, den Shore in den 1970ern mit seinen Farbreisen durch die USA („American Surfaces“, „Uncommon Places“) weiterverfolgen sollte.

Brian K. Mahoney beschreibt, dass die Bilder Early Work zugleich „als Zeugnis der Jugend und als unerwartete Ouvertüre einer einflussreichen Karriere“ fungieren.

In diesem Sinne ist das Thema von Early Work nicht nur New York, sondern vor allem Shores eigener Blick – man sieht, „wie ein voll ausgeprägtes Auge sich bereits in der Adoleszenz herausbildet“.

Vergleich mit spätem Œuvre

Wenn man Early Work im Kontext von Stephen Shores Gesamtwerk betrachtet, wird die Bedeutung der Fotos noch deutlicher.

Seine bekannteren Projekte wurden zumeist in den 1970ern realisiert: American Surfaces (eine Farbreihe von 1971–73) und Uncommon Places (1969–78) zeigen Shore als epischen Reisefotografen, der mit 8×10-Zoll-Kamera Amerika durchquerte.

Die dort gezeigten Szenen – Motels, Diners, Straßenkreuzungen im Tageslicht – knüpfen jedoch formal an Early Work an.

Schon in den Teenagerbildern fällt die gleichbleibende Sensibilität für den Bildrahmen auf.

Die hier erkennbare gleichmäßige Verteilung der Aufmerksamkeit über das gesamte Bildfeld bildet die stilistische Grundlage von Shores Werk – ein Prinzip, das er in seinen späteren Farbfotografien konsequent weiterentwickelt.

Die Ähnlichkeiten reichen auch ins Subjekt

© Stephen Shore, from Early Work (MACK, 2025). Courtesy of the artist and MACK.

Schon in Early Work sind es die gewöhnlichen Menschen und Alltagsorte, die für Shore Bedeutung gewinnen.

In den 1970ern erweitert er seine Palette, indem er auch Motels, Straßenschilder und Inneneinrichtungen fotografiert – das alltägliche Material wurde zum hohen Kunstthema.

Diese Haltung findet ihren Keim in den frühen Fotos, die das Banale bereits als Motiv ernst nehmen.

Ein Vergleich verdeutlicht den Unterschied: Während Shores bekannte Werke leuchtende Farben, weite Blicke und oft menschenleere Räume zeigen, sind Early Work kompakter, gedrängter, immer belebt von Passanten.

Dennoch ist der Blick derselbe: das Interesse an Zwischenräumen und Übergängen, die Liebe zur Struktur eines billigen Teppichs oder einer Auslage.

Early Work ist ein kraftvolles Buch, das berührt, ohne je überzogen zu wirken.

Jedes Bild erzählt eine kleine, eigenständige Geschichte.

Die Wirkung ist intellektuell und emotional: Man erkennt sofort den scharfen Blick, der hier entstanden ist, und versteht, wie diesem jungen Fotografen schon damals ein Meisterblick innewohnte.

Eine große Stärke des Buches ist seine Konzeptionstiefe.

Obwohl Shore die Bilder als Teenager scheinbar ohne tieferen Plan aufgenommen hat, fügt sich das Ensemble zu einer kohärenten Erzählung. Das Fehlen erklärender Texte zwingt zum eigenen Nachdenken, doch durch Shores Essay und die sehr selektive Abbildungsfolge entsteht dennoch ein in sich stimmiger Rahmen.

Man spürt das Konzept des „Rahmens“, nicht nur bildkompositorisch, sondern auch im übertragenen Sinne: was wird ein- oder ausgegrenzt? Diese Spannung macht das Buch interessant für alle, die Fotografie als Kunst verstehen.

Insgesamt bleibt haften: Early Work ist das Porträt eines Fotografen am Anfang – dabei so ausgereift, dass es fast staunen lässt.

Es zeigt, wie viel ein neugieriges Auge, ein scharfes Gespür und handwerkliches Können schon in jungen Jahren bewirken können.

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