Vom Boss zur Bildsprache: Wie Springsteen meine Sicht auf Autorschaft verändert hat
Ich war seit Langem mal wieder im Kino. “Deliver Me from Nowhere” – das Biopic über Bruce Springsteen. Für mich war das keine zufällige Entscheidung. Mehr so etwas wie eine Rückkehr. Oder besser: ein Wiedersehen mit jemandem, der mich musikalisch schon mein ganzes Leben begleitet.
Daran, wie alles begann, erinnere ich mich noch genau.
Ich war 14 Jahre alt, als ich auf der Rückbank eines alten Kombis saß. Wir waren mit unserer Mannschaft auf dem Weg zu einem Basketballspiel irgendwo am südlichen Ende Hamburgs. Mein Trainer legte eine Kassette ein: Bruce Springsteen, Live 1975 – 1985.
Das war nicht gerade die Musik, die man als Teenager hörte, geschweige denn meine Freunde.
Bei denen liefen Nirvana, Rage Against the Machine oder Pearl Jam.
Dann kam “The River”.
Diese wehmütige Mundharmonika. Und dazu Bruce’ eindringliche Stimme, rau und ungeschönt.
Ich war auf einen Schlag getroffen.
Bruce’ Musik wurde der Soundtrack meines Lebens.
Songs, mit denen ich Freundschaften, Liebeskummer, Träume, Verluste und Neuanfänge verbinde.
Geschichten in Liedform, die sich öffnen wie kleine Kurzfilme.
Der Film: Ein Musiker, der gegen seine eigene Legende antritt
“Deliver Me from Nowhere” zeigt nicht den Stadion-Boss, den Mythos.
Sondern Bruce, der sich zurückzieht – in ein leeres Haus am See.
Nur er, seine Gitarre, ein 4-Spur-Rekorder und die Geister seiner Kindheit.
Die harte Stille des Vaters, die Wärme der Mutter. Depression. Zweifel.
Und dazwischen: Musik, roh und leise.
Songs wie Nebraska, aufgenommen bei Nacht, ohne Band, ohne Produzent – nur auf Kassette.
Und plötzlich saß ich da im Kinosessel, und der Fan in mir war ruhig. Stattdessen war da der Fotograf. Der Storyteller. Und ich dachte: Genau das ist Autorschaft!
Autorschaft heißt: Deine Geschichte. Deine Wahrheit.
Springsteen hätte alles „richtig“ aufnehmen können.
Mit Studio, Hits, Band.
Stattdessen entscheidet er sich für das, was er in dem Moment fühlt. Für das, was nachts in seinem Kopf und in seinem Herz passiert ist.
Springsteen ringt in dieser Zeit nicht nur mit seiner Musik, sondern mit sich selbst. Es ist der Moment, in dem er sich gegen Erwartungen entscheidet – gegen den kommerziellen Druck, gegen den Mythos „Boss“ – und für seine eigene künstlerische Wahrheit.
Diese Entscheidung hat mich beeindruckt. Weil sie mutig ist.
Entgegen aller Erwartungen und dem Druck von außen – von Fans, Management und Plattenfirma – wählt er einen stillen, autobiografischen Weg. Jeder in seinem Umfeld schüttelt darüber den Kopf.
Doch Bruce trotz den Zweiflern. Er setzt sich durch. Er ist der Regisseur, der die Erzählperspektive bestimmt.
Noch im dunklen Kinosaal frage ich mich: Wie oft traue ich mich das in meiner Fotografie?
Zeige ich wirklich, was mich bewegt?
Oder bleibe ich oft in sicherer Entfernung?
Biografie als Brennstoff
Was mich berührt hat: Der Film zeigt, dass man seine Biografie nicht loswird.
Sie ist immer Teil der Bilder, der Songs, der Geschichten. Bruce’ Kindheit ist nicht nur der Hintergrund, sondern der Stoff, aus dem seine Musik gemacht ist. “My Father’s House” ist nicht metaphorisch. Es ist eine Narbe, die in Noten erklingt.
In unserem Buch “Mit Bildern Geschichten erzählen”* haben wir das mit Blick auf die Fotografie so in Worte gefasst:
„Die stärksten Geschichten erzählst du, wenn du einen persönlichen Bezug hast.“
Es geht nicht nur um Kamera-Technik oder Stil. Sondern um Autorschaft. Und Mut.
Reduktion als künstlerische Entscheidung
Keine Band. Kein Effekt. Keine Show. Nur Stimme, Gitarre, Mundharmonika – das ist das Album Nebraska.
Pure Reduktion. Künstlerische Klarheit.
In der Reportagefotografie sprechen wir oft davon, nur eine Geschichte zu erzählen.
Weglassen. Fokus. Tiefe statt Breite.
Bruce tut genau das – und trifft damit einen Nerv, der noch lange nach der Vorstellung in mir nachwirkt.
Was bleibt?
Der Film hat mich an etwas erinnert, was ich manchmal selbst aus dem Blick verliere:
Erzähl das, was nur du erzählen kannst.
Auch wenn es leise ist. Oder unbequem.
Und vor allem: auch wenn es nicht alle verstehen.
Für mich war Deliver Me from Nowhere mehr als ein Film über einen Musiker.
Es war ein Film über das Finden der eigenen Stimme. Und über den Mut, ihr zu folgen – auch wenn niemand sonst den Weg kennt.
Wenn du fotografierst, Geschichten suchst, künstlerisch arbeitest – schau ihn dir an.
Auch wenn du kein Springsteen-Fan bist.
Vielleicht gerade dann.
Denn manchmal zeigt dir jemand anderes, wer du selbst bist.
Oder er schickt dich mit den richtigen Fragen auf die Suche.
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