Zwischen Schmerz und Poesie: Der kubanische Fotograf Eldy Ortiz über Erinnerung, Körper und das Überleben im Verfall
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Seine Bilder sind roh, poetisch und verstörend schön: Der kubanische Künstler Eldy Ortiz blickt mit schonungsloser Ehrlichkeit auf das Menschliche – auf Körper, Zerfall und das, was bleibt, wenn alles andere zerbricht. In seinem Fotobuch Bitácora del olvido verwandelt er das Vergessen eines ganzen Landes in ein stilles, visuelles Tagebuch. Im Gespräch erzählt er, warum ihn die analoge Fotografie nie mehr losgelassen hat, wie Kunst zum Überlebensinstinkt wurde – und weshalb in jedem seiner Bilder ein Stück Kuba weiterlebt.
Ein Gespräch über Fotografie, Erinnerung und das Überleben in einer zerrissenen Gesellschaft
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Eldy Ortiz Díaz, geboren 1994 in Havanna, gehört zu den spannendsten Stimmen der jungen kubanischen Kunstszene.
Er ist einer jener jungen Künstler, die das zeitgenössische Kuba mit leiser, aber unerschütterlicher Konsequenz vermessen.
Er studierte zunächst Malerei und Bühnenbild – klassische Disziplinen, die bis heute seine visuelle Sprache prägen. In seinen Fotografien verbinden sich kompositorische Strenge und erzählerische Offenheit. Sie sind handwerklich präzise, poetisch verdichtet und zugleich durchzogen von Schmerz, gesellschaftlicher Beobachtung und persönlicher Verwundbarkeit.
Ortiz arbeitet bevorzugt mit analoger Schwarzweißfotografie, weil sie – wie er sagt – „Geduld lehrt und Überraschung zulässt“.
Seine Serien bewegen sich zwischen dokumentarischer Beobachtung und inszenierter Symbolik.
Die Grenzen sind bewusst fließend: Realität und Traum, Körper und Geist, Gewalt und Zärtlichkeit überlagern sich zu komplexen visuellen Erzählungen.
Seine fotografischen Zyklen – etwa Parásito/Paraíso, Vulnus, Lontananza, Pneuma oder Bitácora del olvido – bilden eine zusammenhängende Spurensuche nach Verletzlichkeit, Identität und Erinnerung.
„Mich interessiert die Vulnerabilität als Zustand – sowohl emotional als auch politisch“, schreibt Ortiz in seinem Portfolio. „Vor der Kamera bin ich genauso ausgesetzt wie meine Motive. Wir beeinflussen uns gegenseitig, und in dieser Spannung entsteht das Bild.“
Seine Arbeiten wurden in Havanna, Bern, Madrid und Portugal gezeigt, zuletzt in der “Fundación Ludwig de Cuba” und in der Galería Taller Gorría.
2023 erhielt Ortiz die Beca del Fondo de Arte Joven, zuvor die Raúl-Corrales-Stipendien der Fototeca de Cuba.
In einer Gesellschaft, in der Kunst oft zwischen Anpassung und Widerstand balanciert, bleibt seine Stimme unbestechlich. Seine Bilder erzählen von einem Land im Stillstand – aber auch vom Mut, weiterzusehen.
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Vom Bühnenbild zur Fotografie
Eldy, du hast ursprünglich Bühnenbild und Malerei studiert. Wie kam es dazu, dass du schließlich in der Fotografie dein Hauptausdrucksmittel gefunden hast?
“Als ich im ersten Jahr meines Studiums für Szenografie an der Universität der Künste (ISA) war, mussten wir einen Photoshop-Kurs belegen. Dafür brauchten wir eine Kamera, die ich mir damals nicht leisten konnte. Mein Onkel in den USA half mir aus, und so begann mein erster Kontakt mit der Fotografie – ganz ohne große Ambitionen.
Zunächst fotografierte ich nur für die Übungen, dann legte ich die Kamera wieder weg. Erst ein paar Jahre später brachte mich ein Freund aus der Kunstakademie San Alejandro auf die analoge Fotografie. Anfangs klang das für mich wie etwas aus einer anderen Zeit – aber als ich damit zu experimentieren begann, war ich fasziniert. Die Arbeit mit Filmen, Chemikalien, Dunkelkammer – das alles fühlte sich an wie Handwerk und Magie zugleich.
Ich liebte die Unvorhersehbarkeit: dass ein Film auch mal leer blieb oder ein Bild plötzlich eine ganz andere Atmosphäre bekam. Dieses Risiko, dieses Warten auf das Unsichtbare – das hat mich endgültig gefesselt.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Leben und Arbeiten in Kuba
Deine Arbeiten sind stark von deiner Umgebung geprägt. In einem früheren Interview hast du gesagt, dass die Realität, die du in Kuba erlebst, noch viel härter sei als das, was du zeigst. Wie beeinflusst das Leben auf der Insel deine Fotografie?
“In Kuba kann man der Realität nicht entkommen. Sie durchdringt alles – und damit auch die Kunst. Für mich ist Fotografie ein Weg, diese Realität zu verstehen, sie irgendwie zu ertragen.
Ich habe viele schwierige Situationen erlebt – Momente, in denen ich nicht einmal den Mut hatte, abzudrücken. Aber gerade in solchen Augenblicken wird mir klar, dass Kunst uns retten kann. Sie gibt uns die Möglichkeit, dem Chaos eine Form zu geben.
Meine Bilder bewegen sich oft zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich beobachte das Alltägliche, das Gewöhnliche – und entdecke darin das Surreale. Manchmal baue ich Szenen auf, andere entstehen spontan auf der Straße. Ich arbeite mit echten Menschen, aber auch mit Symbolen. Viele meiner Themen kreisen um Verletzlichkeit, um das Geheimnis des weiblichen Körpers und das Unsagbare.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
„Fotografien finden dich“
Was bedeutet dir Fotografie als Medium? Welche Rolle spielt sie für dich – persönlich und gesellschaftlich?
“Ich sehe Fotografie als eine Form der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die spanische Fotografin Lúa Ribeira hat einmal gesagt: „Fotografie ist ein Mittel, sich dem Jetzt zu stellen.“ Das empfinde ich genauso.
Eine Fotografie friert einen Moment für immer ein – sie erlaubt, ihn später mit ganz anderer Intensität zu betrachten. Manchmal habe ich das Gefühl, die Fotos finden mich, nicht umgekehrt.
Für mich ist Fotografie ständiges Entdecken, selbst im Gewöhnlichen. Sie ist Zeugenschaft – für das Heute, für das, was bald verschwinden wird. Gerade in Kuba ist das essenziell: Wir müssen festhalten, was uns umgibt, weil alles so schnell zerfällt. Ich glaube, Fotograf:innen sind Komplizen ihrer Zeit.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Handwerk und Zufall
Du arbeitest analog, komponierst deine Bilder sorgfältig. Wie läuft dein kreativer Prozess ab – von der Idee bis zum fertigen Bild?
“Das hängt vom Projekt ab. Bei inszenierten Serien beginnt die Arbeit lange vor dem ersten Foto. Ich recherchiere, lese Texte aus Literatur, Philosophie, Soziologie. Ich schaue, wie andere Künstler ähnliche Themen behandelt haben – um meinen eigenen Zugang zu finden.
Bei dokumentarischen Arbeiten lasse ich mehr Raum für den Zufall. Ich trage meine Kamera immer bei mir und bin offen für das, was mir begegnet. Wenn ich Menschen fotografiere, gebe ich keine Anweisungen – ich möchte, dass sie sich natürlich bewegen. Die Begegnung selbst ist der eigentliche Moment.
Die analoge Fotografie zwingt mich, langsam zu arbeiten. Sie ist eine Schule der Geduld. Man überlegt genau, bevor man auslöst. Das Bild entsteht bewusst, mit körperlicher Beteiligung – wie beim Malen mit Ölfarben. Dieses handwerkliche, fast alchemistische Element fasziniert mich.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
„Bitácora del olvido“ – Das Tagebuch des Vergessens
Dein Fotobuch „Bitácora del olvido“ entstand in Bejucal, einem Ort nahe Havanna. Was hat dich dorthin geführt?
“Während der Pandemie 2021 fuhr ich regelmäßig nach Bejucal, der Heimat meiner Freundin. Das Dorf hat mich sofort in seinen Bann gezogen – es war, als wäre dort die Zeit stehen geblieben.
Die Krise hatte das Land fest im Griff: Mangel, Inflation, Stromausfälle von bis zu 18 Stunden. Diese Orte wirkten verlassen, vergessen. Ich wollte ihre stille Würde sichtbar machen.
Mit der Zeit entstand eine Sammlung von Bildern über das Leben zwischen Hoffnung und Verfall. Kinder, Alte, Rituale, verlassene Räume – Fragmente einer Existenz, die langsam verschwindet. So formte sich ein poetisches Tagebuch, das von Zeit, Erinnerung und Überleben erzählt.”
Der Klang des Verschwindens
Was bedeutet der Titel „Bitácora del olvido“ für dich?
“Mich berührte die Melancholie, mit der die Menschen von der Vergangenheit erzählten. Bejucal war einst berühmt für seine Charangas – ausgelassene Straßenfeste, voller Musik und Farben. Heute erinnert sich kaum jemand daran.
Auch die erste Eisenbahnstation Lateinamerikas steht dort, halb verfallen. Geschichten, die verblassen, weil niemand sie mehr erzählt.
Mit dem Titel wollte ich diese Vergänglichkeit spürbar machen: eine Chronik des Verblassens. *Bitácora* heißt Logbuch – mein Buch ist ein visuelles Protokoll meiner Zeit in Bejucal.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Eine surreale Reise
Gab es während der Arbeit an dem Buch besondere Momente oder Herausforderungen?
“Viele. Allein schon, nach Bejucal zu gelangen, war abenteuerlich. Wegen der Pandemie durfte niemand reisen, also gingen meine Freundin und ich heimlich über einen Bergpfad, um ins Dorf zu gelangen.
Einmal fotografierte ich einen Lagerraum voller Särge. Die Nachfrage war so groß, dass sie Tag und Nacht produziert wurden. Draußen hörte man die Sägen, das Klopfen des Holzes – und gleichzeitig verkündeten die Nachrichten, dass es keine Todesfälle gäbe. Dieser Widerspruch war schwer zu ertragen.”
Das Geschenk des Zufalls
Gibt es eine Aufnahme, die dir besonders viel bedeutet?
“Ja, ein Foto zeigt eine Wand voller Kreuze, daneben eine alte Uhr. Als ich die Szene fotografierte, trat plötzlich der Fahrer des Pfarrers ins Bild. Ich war zuerst verärgert, weil ich dachte, das Bild sei ruiniert.
Doch beim Entwickeln sah ich, dass genau seine Bewegung dem Bild Tiefe gab – als würde eine Geistergestalt aus dem Raum treten. Es wurde eines meiner Lieblingsbilder. Ein schöner Beweis dafür, dass Unfälle manchmal die besten Geschenke sind.”
„Bitácora del olvido“ © Eldy Ortiz
Blick nach vorn
Woran arbeitest du gerade? Und was wünschst du dir für die Zukunft?
“Nach vier Jahren Arbeit an Bitácora del olvido fühle ich mich einerseits erfüllt, andererseits leer.
Diese Leere gehört wohl dazu.
Zurzeit fotografiere ich ohne festes Thema – intuitiv, offen. Vielleicht entsteht daraus wieder etwas Neues. Außerdem möchte ich eine Collage-Serie fortsetzen, die ich 2020 begonnen habe. Sie dreht sich um den „kranken Körper“ als Symbol des Widerstands gegen Macht und Kontrolle.
Für 2026 plane ich einen Workshop namens INWARDS (Desde adentro) über dokumentarische und narrative Fotografie. Lehren macht mir zwar Angst, aber ich glaube, es wird bereichernd.
Was die Zukunft betrifft: Die größten Hürden sind in Kuba die materiellen – Filme, Chemikalien, Papier. Aber meine Motivation ist klar: weiter fotografieren, weiter Zeugnis ablegen. Dieses verletzte Land hat noch viele Geschichten, die erzählt werden müssen.”
Eldy Ortiz’ Bilder zeigen keine Antworten, sondern offene Wunden. Sie sind keine Anklagen, sondern Spiegel. In einer Welt, die ständig verdrängt und vergisst, ist seine Fotografie ein Akt der Erinnerung – poetisch, schmerzhaft und zutiefst menschlich.
Das könnte dich auch interessieren
Unterstützung für “Abenteuer Reportagefotografie”
*Bei einigen der Links auf dieser Website handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Wenn du die verlinkten Produkte kaufst, nachdem du auf den Link geklickt hast, erhalte ich eine kleine Provision direkt vom Händler dafür. Du zahlst bei deinem Einkauf nicht mehr als sonst, hilfst mir aber dabei, diese Webseite für dich weiter zu betreiben. Ich freue mich, wenn ich dir Inspiration für deine Kamera-Abenteuer biete.
Falls du Danke sagen möchtest, kannst du mir per PayPal eine Spende zukommen lassen. Oder du schaust auf meiner Amazon-Wunschliste vorbei. Dort habe ich Dinge hinterlegt, mit denen du mir eine Riesenfreude machen würdest.
Herzlichen Dank für deine Unterstützung!