Saul Leiter: Farben fühlen, Flächen sehen – der poetische Blick des legendären Universalkünstlers

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)

Saul Leiters Fotografie begeistert bis heute durch ihre einzigartige Verbindung von Malerei und Momentaufnahme – umso spannender ist die Publikation „Saul Leiter – Die große Retrospektive“* aus dem Kehrer-Verlag. Der voluminöse Bildband erscheint anlässlich von Leiters 100. Geburtstag und versammelt erstmals sein Gesamtwerk in einem offiziellen Jubiläumsband.

Entstanden in Zusammenarbeit mit der Saul Leiter Foundation, vereint das Buch Leiters Schaffen aus über sechs Jahrzehnten: von den abstrakten Straßenszenen New Yorks über seine Modeaufnahmen und minimalistischen Aktfotos bis hin zu seinen Gemälden und übermalten Fotografien.

Zugleich gibt die Retrospektive Einblick in den künstlerischen Prozess des Pioniers – etwa durch abgedruckte Kontaktbögen und Notizbucheinträge, die hier erstmals veröffentlicht werden.

Mehrere fundierte Essays namhafter Autoren (u. a. Margit Erb und Lou Stoppard) beleuchten Leiters Leben, Philosophie und Werk und rahmen die Bildauswahl intellektuell.

Damit fungiert der Band nicht nur als Ausstellung auf Papier, sondern auch als umfassende Würdigung eines lange übersehenen Künstlers, der die Fotografie des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.

I’m supposed to be a pioneer in color. I didn’t know I was a pioneer, but I’ve been told I’m a pioneer. I’ll just go ahead and be a pioneer! I find it strange that anyone would believe that the only thing that matters is black and white. It’s just idiotic. The history of art is the history of color. The cave paintings had color … [But] there has always been the idea in certain circles that form is more important, that to have too much color is not good, it distracts from your concentration.
— Saul Leiter

Leiters fotografisches Werk und Stil

Saul Leiter gilt heute als Pionier der künstlerischen Farbfotografie, doch zu Lebzeiten blieb seine Arbeit lange im Verborgenen.

Bereits ab 1948 – also gut zwanzig Jahre bevor William Eggleston oder Stephen Shore die Farbphotographie salonfähig machten – zog Leiter mit Farbfilm durch New York.

Dabei beeinflusste seine Ausbildung als Maler seine Bildsprache deutlich: Leiter war der “Maler unter den Straßenfotografen”.

Er vermied das rein Dokumentarische oder Erzählerische und komponierte stattdessen fragmentarische, impressionistische Szenen.

In Leiters Bildern verschmelzen Alltägliches – etwa Straßenschilder, Schaufenster oder Regenschirme – mit abstrakten Farbflächen und Unschärfen zu malerischen Kompositionen.

Diese Ästhetik macht seine Aufnahmen mehrdeutig und poetisch.

Ich mag es, wenn man nicht sicher ist, was man sieht.
— Saul Leiter

Tatsächlich entziehen sich seine Fotos einfachen Deutungen – sie stiften Verwirrung, sind mysteriös, lyrisch, poetisch.

Farben spielen bei Leiter die Hauptrolle.

In einer Zeit, als künstlerische Fotografie meist in Schwarzweiß gedacht war, vertraute er mutig auf die Ausdruckskraft der Farbe.

Monochrome Flächen in Rot, Gelb oder Türkis durchziehen viele seiner Straßenszenen und erinnern an die Farbflächenmalerei eines Mark Rothko oder die dynamischen Pinselschwünge im Action Painting.

Leiters intuitive Arbeitsweise – er fotografierte viel aus dem Bauch heraus und entdeckte Motive oft zufällig – trug ebenfalls zu seinem unverwechselbaren Stil bei.

So war er ein Meister darin, das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen zu finden, die Schönheit alltäglichster Stadtmomente sichtbar zu machen.

Dieser beinahe piktorialistische Ansatz, der die ästhetische Wirkung über die bloße Dokumentation stellt, fordert die Betrachtenden heraus, in jedem Bild eigene Stimmungen und Geschichten zu entdecken.

Leiters Haltung dazu blieb bescheiden.

Er habe nie geplant, als Revolutionär der Farbe zu gelten – er fotografierte einfach, was ihn anzog, allen Konventionen zum Trotz.

Gerade diese Beharrlichkeit und Unvoreingenommenheit machen sein Werk aus heutiger Sicht so bedeutend.

I happen to believe in the beauty of simple things. I believe that the most uninteresting thing can be very interesting.
— Saul Leiter

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)

Bildauswahl und Sequenzierung

Die Bildauswahl der Retrospektive überzeugt durch ihre enorme Bandbreite und Kuratierungstiefe.

Der 352-seitige Band präsentiert Leiters Schaffen in all seinen Facetten, vereint also Schwarzweiß- und Farbaufnahmen, Modefotografien, Straßenbilder, Porträts, Akte sowie Malereien und übermalte Fotos in einem Fluss.

Viele der abgebildeten Fotografien und Zeichnungen wurden erst nach Leiters Tod im Jahr 2013 im Archiv entdeckt und sind nun erstmals publik gemacht.

Dadurch wirkt der Band wie eine Entdeckungsreise durch Leiters Lebenswerk – selbst Kenner dürften hier auf bisher unbekannte Schätze stoßen.

Die Sequenzierung der Bilder ist klug aufeinander abgestimmt

Oft treten thematische oder formale Dialoge zutage, wenn etwa eine verregnete Straßenaufnahme neben einem abstrakten Gemälde steht und so Leiters malerische Sicht auf die Wirklichkeit unterstreicht.

Obwohl das Buch chronologisch nicht strikt linear verläuft, entsteht doch ein Gefühl für die Entwicklung seines Stils über die Jahrzehnte.

Frühere, noch in Schwarzweiß gehaltene Street-Photography-Aufnahmen führen den Blick langsam hin zu den leuchtenden Farbexplosionen der 1950er und 60er-Jahre.

Dazwischen öffnen eingestreute Modefotos und Aktstudien weitere Kapitel in Leiters Schaffen und zeigen, wie konsequent er seine Bildsprache auch jenseits der Straßenszene verfolgte.

Die Abfolge der Bilder wirkt dabei nie beliebig, sondern sorgfältig erzählerisch komponiert, als blättere man durch eine kuratierte Ausstellung.

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)

Gestaltung des Bildbandes

Der hochwertige Leineneinband mit Banderole verleiht dem Buch auch haptisch den Charakter einer besonderen Retrospektive.

Der Schutzumschlag zeigt in kräftigen Farben eines von Leiters ikonischen Straßenmotive – ein rotes New Yorker Taxi mit einem ausgestreckten Arm – und stellt sofort Leiters Farbgefühl heraus.

Unter der Banderole kommt der schlichte Leinenumschlag mit schwarzem Prägedruck zum Vorschein, der Titel und Künstlernamen typografisch klar präsentiert.

Auffällig ist bereits auf den ersten Seiten ein spielerisches Detail: Auf dem Vorsatzpapier sind falsche Schreibweisen von Leiters Namen („Saul Lighter“, „Leeter“, „Leader“ etc.) durchgestrichen, bis letztlich „Leiter“ korrekt stehen bleibt.

Dieses augenzwinkernde Element spiegelt Leiters selbstironische Art wider – und erinnert daran, wie lange sein Name außerhalb von Insiderkreisen kaum bekannt war.

Die innere Gestaltung stammt vom renommierten Buchdesigner Ramon Pez und überzeugt durch ein ausgewogenes Layout.

Großformatige Bildtafeln wechseln sich mit kleineren Abbildungen und Faksimiles von Arbeitsmaterialien ab, ohne dass der Lesefluss stockt.

Die Reproduktionsqualität der Fotografien ist exzellent

Farben wirken satt und nuanciert, Schwarzweißbilder haben die nötige Tiefe.

Unterstützt von dem großzügigen Format (25,4 × 30,5 cm) kommen Leiters detailreiche Kompositionen voll zur Geltung.

Insgesamt strahlt die Gestaltung Sorgfalt und Respekt vor dem Werk aus – jedes Foto hat Raum zu atmen, jedes Gemälde den Kontext, den es braucht.

Ein Register der Bildlegenden sowie biografische Anmerkungen am Ende runden den hochwertigen Eindruck ab und machen das Buch zu einem liebenswerten Sammlerstück für Fotokunst-Begeisterte.

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)

Künstlerischer Kontext und Einordnung

Im Kontext der Fotografiegeschichte wird Saul Leiters Rang erst seit relativ kurzer Zeit angemessen gewürdigt.

Obwohl er zu den Wegbereitern der Farb- und Street Photography zählt, führte er jahrzehntelang ein stilles Künstlerleben in Manhattan.

Leiter fotografierte und malte über 60 Jahre hinweg nahezu täglich, doch blieb sein umfangreiches Archiv in seinem New Yorker Apartment lange unentdeckt.

Erst ab den 2000er-Jahren – mit Publikationen wie Early Color* (2006) – gelangte sein Oeuvre in breitere Öffentlichkeit.

Jenes Buch präsentierte erstmals eine Auswahl seiner frühen Farbfotografien der 1940er- bis 60er-Jahre und wurde schnell zum Kult in der Fotobuchszene. Early Color offenbarte Leiters außergewöhnliches Talent, Farbe kompositorisch so einzusetzen, dass banale Straßenszenen in visuelle Gemälde verwandelt werden – ein „Aha-Erlebnis“ für viele, die dachten, William Eggleston sei der Urvater der Farbfotografie.

Doch Leiter war Eggleston historisch um Jahrzehnte voraus, auch wenn ihm zeitlebens der Ruhm versagt blieb.

Im Vergleich zu Early Color oder der kompakten Überblickspublikation All About Saul Leiter* (2018) geht die nun vorliegende große Retrospektive einen Schritt weiter: Sie integriert nicht nur Leiters berühmte Farbaufnahmen, sondern stellt dessen Gesamtwerk in einen Zusammenhang, inklusive der lange übersehenen Malereien und Modearbeiten.

Damit bietet das Buch einen umfassenderen Kontext, als es frühere Veröffentlichungen konnten.

Die verlegerische Entscheidung, Archivmaterial wie Kontaktabzüge und persönliche Notizen abzudrucken, trägt zudem zur historischen Einordnung bei – man erhält Einblick in Leiters Arbeitsweise und die Entstehungsbedingungen seiner Kunst.

So erfährt man etwa, mit welcher Neugier und Ausdauer er in seinem Viertel – der Lower East Side – nach Motiven suchte und wie eng verzahnt seine Fotografien mit seinen malerischen Experimenten waren.

Im künstlerischen Kanon der Street Photography nimmt Leiter heute einen festen Platz ein, gleichberechtigt neben Größen wie Henri Cartier-Bresson (dessen Fokus zwar stärker auf formaler Strenge und weniger auf Farbe lag) oder zeitgenössischen Farbfotografen wie Fred Herzog.

Mehr noch: Leiters multimediale Arbeitsweise – das Ineinandergreifen von Fotografie und Malerei – macht ihn zu einem Sonderfall, der die starren Genre-Grenzen sprengt.

Diese Retrospektive unterstreicht eindrucksvoll, dass Leiters Werk weit über die Street Photography hinausgeht und vielmehr ein Gesamtbild eines Künstlers zeichnet, der die Grenzen zwischen Dokumentation und Kunst aufgehoben hat.

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)

I believe that there is something in you that strives for order, and within that order there’s a certain kind of mishmoshy confusion, and you bring this mishmoshy confusion, if you succeed, into some kind of order. There’s an element of control, and there’s also an element that just happens—if you’re very lucky. Artists need luck.
— Saul Leiter

Fazit

„Saul Leiter – Die große Retrospektive“* ist ein Meisterstück unter den Fotobüchern und wird sowohl Liebhaber von Leiters Arbeiten als auch Neuentdecker restlos überzeugen.

Vom Inhalt über die Gestaltung bis zum historischen Kontext – hier liegt eine publikationsgewordene Ausstellung vor, die Maßstäbe setzt.

Die sorgfältige Bildauswahl und abwechslungsreiche Sequenzierung vermitteln einen intensiven Eindruck von Leiters visueller Poesie des Alltags.

Zugleich ermöglichen die Hintergrundtexte und Archivmaterialien eine reflektierte Auseinandersetzung mit seinem Schaffen, ohne je ins Akademische abzudriften.

Der großformatige Druck gibt Leiters Fotos die Bühne, die sie verdienen, und lässt die Farben so leuchten, als stünde man selbst im regenverhangenen New York der 1950er-Jahre.

Das Buch ist ein würdiges Monument für Saul Leiter: Es feiert einen Fotografen, der die Schönheit im Unspektakulären fand, und macht sein Lebenswerk einem breiten Publikum zugänglich.

Dieser Bildband gehört in jede gut sortierte Fotobibliothek – er lädt dazu ein, immer wieder darin zu blättern und sich von Leiters Farben und Formen aufs Neue verzaubern zu lassen.

© Saul Leiter – Die große Retrospektive (Kehrer-Verlag)



“Saul Leiter – Die große Retrospektive”*
Einblick in das Werk eines stillen Pioniers

Zum 100. Geburtstag Saul Leiters würdigt dieser aufwendig gestaltete Bildband den Fotografen, Maler und Farbpionier mit einer umfassenden Werkschau.

Die Retrospektive zeigt Leiters poetische Straßenszenen, Modefotos, Akte und Malereien – viele davon erstmals publiziert. Farben, Reflexionen, Unschärfen und Zwischenmomente prägen seine Bildsprache.

Die kluge Bildsequenz, Essays und Archivmaterial machen das Buch zu einer würdigen Hommage an einen Universalkünstler, der das Alltägliche in Kunst verwandelte.

Für Liebhaber von Farbfotografie, Street Photography und leiser visueller Poesie.


Weiterführende Links

Das könnte dich auch interessieren


Unterstützung für “Abenteuer Reportagefotografie”

*Bei einigen der Links auf dieser Website handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Wenn du die verlinkten Produkte kaufst, nachdem du auf den Link geklickt hast, erhalte ich eine kleine Provision direkt vom Händler dafür. Du zahlst bei deinem Einkauf nicht mehr als sonst, hilfst mir aber dabei, diese Webseite für dich weiter zu betreiben. Ich freue mich, wenn ich dir Inspiration für deine Kamera-Abenteuer biete.

Falls du Danke sagen möchtest, kannst du mir per PayPal eine Spende zukommen lassen. Oder du schaust auf meiner Amazon-Wunschliste vorbei. Dort habe ich Dinge hinterlegt, mit denen du mir eine Riesenfreude machen würdest.

Herzlichen Dank für deine Unterstützung!

Kai Behrmann

Hallo, ich bin Kai. Fotografie bedeutet für mich erleben. Es geht nicht nur um das Einfrieren eines Moments, sondern darum, ihn zunächst aktiv zu spüren. Und zwar mit allen Sinnen. Erst dann kommt die Kamera ins Spiel.

https://www.kaibehrmann.net/
Zurück
Zurück

Hinter den Bergen, wo das Leben leiser wird – Ragnar Axelssons Blick auf das abgelegene Island

Weiter
Weiter

Finde deine Stimme: Warum fotografische Identität von innen kommt