Fotografie als Gespräch: Hans-Michael Koetzle im Dialog mit den Meistern der Kamera
Hans-Michael Koetzle ist Autor, Kurator und einer der profiliertesten Fotohistoriker im deutschsprachigen Raum. Seine Texte verbinden tiefgehende Recherche mit erzählerischer Klarheit – stets mit dem Ziel, Fotografie als kulturelles Gedächtnis und gesellschaftliches Medium erfahrbar zu machen. © A. J. Hirsch
In einer Welt voller Bilder fällt es oft schwer, innezuhalten und wirklich hinzusehen. Noch schwerer ist es, über Bilder zu sprechen – ernsthaft, differenziert, mit historischem Bewusstsein. “Reden wir über Fotografie” von Hans-Michael Koetzle tut genau das: Der Band versammelt 34 Gespräche, Essays und Porträts aus über vier Jahrzehnten und wird so selbst zu einem Stück Fotogeschichte. Ein Lese- und Erinnerungsbuch, das ebenso leise wie nachhaltig wirkt.
Bilder werden heutzutage in nie dagewesener Geschwindigkeit produziert, geteilt und vergessen werden, wirkt der Titel “Reden wir über Fotografie”* wie ein Gegenentwurf.
Er formuliert eine Einladung zur Entschleunigung – aber auch eine Aufforderung zur Reflexion: über Fotografie nicht nur als technisches Verfahren oder visuelles Produkt, sondern als kulturelle Praxis, als historisch gewachsenes Medium, als Form der Weltaneignung.
Mit diesem Band legt der renommierte Kurator und Autor Hans-Michael Koetzle eine umfangreiche Sammlung seiner über Jahrzehnte hinweg geführten Gespräche, Essays und Porträts vor – erstmals gebündelt in einem Band, herausgegeben von dem Kulturpublizisten Andreas J. Hirsch und erschienen im Kehrer Verlag.
Verbale Geschichte der Fotografie-Szene des 20. und frühen 21. Jahrhunderts
Dabei ist der Band keineswegs ein Best-of mit Greatest-Hits-Flair.
Vielmehr funktioniert er wie ein intellektuelles Archiv, eine verbale Geschichte der Fotografie-Szene des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Viele der hier versammelten Texte – Interviews mit großen Fotografen, Designerinnen, Autoren – sind in Magazinen, Ausstellungskatalogen oder Büchern erschienen, die heute nur noch schwer zugänglich sind.
Koetzles Buch bewahrt sie in neuer Form und macht sie einer breiteren Leserschaft dauerhaft zugänglich.
So trifft der Leser auf Ikonen wie Henri Cartier-Bresson, William Eggleston, René Burri oder Martin Parr, auf einfühlsame Gespräche mit Peter Lindbergh und Robert Doisneau – aber auch auf weniger bekannte, oft übersehene Akteure aus dem Bereich des Grafikdesigns, der Typografie und der Verlagsarbeit.
Diese Offenheit für das „Ökosystem“ Fotografie ist eine der großen Stärken des Bandes: Koetzle redet eben nicht nur über Fotografie, sondern mit jenen, die sie geprägt, weitergedacht und publiziert haben.
Schon das Format des Buches signalisiert Zurückhaltung: Ein kleines, fest gebundenes Hardcover mit 384 Seiten im handlichen Format (11,5 × 16,2 cm) und typografisch nüchtern. Kein Hochglanz, keine Inszenierung – sondern ein bewusst stiller Raum für die Sprache. Die Form folgt hier dem Inhalt: Das Wort hat Vorrang vor dem Bild. Und genau darin liegt die Qualität dieses Werkes – und seine Relevanz.
Bilder zirkulieren immer schneller und ebenso schnell aus dem kollektiven Gedächtnis.
Koetzles Arbeit erinnert daran, dass Fotografie nicht nur ein visuelles, sondern auch ein historisches und diskursives Medium ist.
Der Autor ist dabei kein neutraler Archivar. Vielmehr versteht er seine Rolle als aktiver Gestalter von Erinnerung: Er verknüpft die Stimmen, kontextualisiert, kommentiert, arrangiert – mit einem feinen Gespür für historische Relevanz und ästhetische Zusammenhänge.
Gedrucktes Gespräch über das Sehen, das Erzählen, das Erinnern
Das Besondere an Koetzles Zugang liegt auch darin, dass er Fotografie nicht als isolierte Kunstform betrachtet, sondern als Teil eines größeren kulturellen Ökosystems. In seinen Gesprächen geht es ebenso um Buchgestaltung, redaktionelle Prozesse, technische Entwicklungen oder medienpolitische Fragen wie um fotografische Visionen. So gelingt es ihm, Fotografie nicht nur als Ausdruck individuellen Sehens darzustellen, sondern als gesellschaftliches Produkt: verwoben mit den Bedingungen ihrer Zeit, den Apparaten, den Institutionen, den Diskursen.
Damit ist der Band auch ein wertvolles Dokument für künftige Generationen von Fotografen, Kuratoren, Wissenschaftlern.
Er bewahrt nicht nur Wissen, sondern zeigt, wie dieses Wissen dialogisch entstehen kann.
Die Gespräche mit Cartier-Bresson, Eggleston, Parr oder Wenders sind nicht als Interviews im klassischen Sinn lesbar – sie sind vielmehr essayistisch geführte Dialoge über Bild und Welt.
Sie zeigen, wie sich Sehen lernen lässt: durch Austausch, durch Zuhören, durch Fragen.
Andreas J. Hirsch – Herausgeber des Bandes – betont in seinem Vorwort, dass Koetzles Methode „eine Art archäologischer Journalismus“ sei: nicht spektakulär, aber gründlich, nicht laut, aber nachhaltig. Diese Beschreibung trifft es genau.
“Reden wir über Fotografie” ist ein Buch, das nicht mit Theorien auftrumpft, sondern mit Gesprächen überzeugt – als stille Form der Überlieferung.
Es lädt dazu ein, sich Zeit zu nehmen, abzutauchen in Gespräche, Beobachtungen, essayistische Miniaturen.
Es ist ein Lesebuch für alle, die Fotografie nicht nur sehen, sondern verstehen wollen – in ihrer historischen Tiefe, in ihren kulturellen Kontexten, in ihrer medialen Vielschichtigkeit.
Dabei ist das Buch keine leichte Kost, aber es ist zugänglich. Es erfordert Aufmerksamkeit, aber keine akademische Vorbildung.
Für Praktiker der Fotografie – Fotografen, Bildredakteure, Kuratorinnen – ist das Buch eine Fundgrube. Es zeigt, wie sehr fotografisches Arbeiten immer auch ein Reflektieren über das eigene Tun bedeutet.
Auch als zeitgeschichtliches Dokument verdient das Buch Beachtung.
Es bewahrt Stimmen, Kontexte, Erinnerungen, die in keiner Datenbank auffindbar sind.
Die Interviews wurden oft über Jahre hinweg geführt, begleitet, redaktionell betreut – sie spiegeln ein journalistisches Ethos, das im digitalen Medienbetrieb selten geworden ist.
Koetzle arbeitet nicht für den schnellen Effekt, sondern für das bleibende Gespräch.
Er behandelt Fotografie wie ein Kulturgut, das erklärt, befragt, kontextualisiert werden muss.
Kurzum: “Reden wir über Fotografie” ist ein Buch, das sich dem schnellen Konsum entzieht – und genau dadurch seine Wirkung entfaltet.
Es ist eine stille, aber nachhaltige Lektüre.
Kein Manifest, kein Lehrbuch, kein Kanon. Sondern ein Begleiter.
Ein gedrucktes Gespräch über das Sehen, das Erzählen, das Erinnern – über Fotografie eben.
Wer sich ernsthaft mit dem Medium beschäftigt, sollte es nicht übersehen.
Hans-Michael Koetzle: “Reden wir über Fotografie”
In “Reden wir über Fotografie”* versammelt Hans-Michael Koetzle 34 Gespräche, Essays und Porträts aus über vier Jahrzehnten.
Der Band dokumentiert eindrucksvoll, wie Fotografie als kulturelles Gedächtnis, als Haltung und als gestalteter Blick funktioniert.
In klugen, zugänglichen Texten kommen große Namen wie Henri Cartier-Bresson, William Eggleston, Peter Lindbergh oder Wim Wenders ebenso zu Wort wie weniger bekannte Fotografen.
Ein leises, vielschichtiges Buch, das keine Bilder zeigt – sondern die Gedanken dahinter beleuchtet.
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