Hinter den Bergen, wo das Leben leiser wird – Ragnar Axelssons Blick auf das abgelegene Island
© Ragnar Axelsson – Behind Mountains (Kehrer-Verlag)
„Black and white lives longer. It’s more dramatic, even when the weather is bad. Nobody goes out in bad weather – but that’s where the most rewarding pictures happen.“
Wer das Werk des isländischen Fotografen Ragnar Axelsson (RAX) kennt, weiß: Seine Bilder erzählen nicht bloß von Landschaften, sondern von Leben in Extremen. Mit seinem neuen Bildband „Behind Mountains“* legt Axelsson eine intime, tief berührende Dokumentation der abgelegenen Höfe Nordost-Islands vor – eine Region, die von Abwanderung, Klimawandel und strukturellem Wandel gezeichnet ist.
Der bei Kehrer erschienene, rein in Schwarzweiß gehaltene Bildband versammelt Fotografien, die zwischen 2004 und 2017 auf den einsamsten Bauernhöfen Islands entstanden sind.
Dabei geht es nicht um Nostalgie, sondern um Würde: um das Weiterleben unter schwierigen Bedingungen, das Altern im Rhythmus der Natur, das Verschwinden einer Lebensform, deren letzte Zeugen Axelsson mit äußerster Sensibilität porträtiert.
Ein Leben „hinter den Bergen“
Der Titel Behind Mountains ist wörtlich zu nehmen: Die porträtierten Menschen leben oft auf Höfen, die im Winter wochenlang abgeschnitten sind – hinter Bergen, hinter Wetterfronten, jenseits des Sichtbaren.
Axelsson begleitet diese Menschen nicht als distanzierter Reporter, sondern als Teilhaber an ihrem Alltag.
Er reiste wiederholt an die Orte, oft zu Fuß oder mit dem Geländewagen, blieb tage- oder wochenlang, schlief in Kammern ohne Heizung, half bei der Arbeit. Die Nähe, die er so gewann, ist in den Bildern spürbar.
Schwarzweiß als Bekenntnis
Wie in all seinen großen Werken (“Last Days of the Arctic”*, “Gesichter des Nordens”*) verzichtet Axelsson vollständig auf Farbe.
Für ihn ist das kein ästhetischer Selbstzweck, sondern Ausdruck einer Haltung: „Black and white lives longer“, sagt er.
Die Reduktion auf Licht, Kontrast und Struktur schärft den Blick – und macht das Flüchtige greifbar.
Seine Fotografien sind kontrastreich, klar komponiert, zugleich aber voller Zartheit und Respekt.
Oft rahmt Nebel eine Szene, begrenzt Schnee das Sichtfeld – und genau darin liegt die Wirkung: Das, was sichtbar ist, wirkt umso intensiver.
© Ragnar Axelsson – Behind Mountains (Kehrer-Verlag)
Porträt und Umgebung – untrennbar
Axelssons Aufnahmen zeigen Menschen, Tiere, Landschaften – aber niemals isoliert.
Es sind keine klassischen Porträts, sondern „environmental portraits“: Der Mensch in seinem Umfeld, eingebettet in das, was ihn nährt, aber auch fordert.
Besonders eindrucksvoll: Ein alter Bauer mit wettergegerbtem Gesicht, das Fenster hinter ihm von Schneeverwehungen halb verdeckt.
Oder ein Schaf, das durch eine Windböe den Kopf wendet – ein Moment zwischen Bewegung und Stillstand.
Die Atmosphäre ist geprägt von Stille, Härte und einem seltsamen Frieden, der über allem liegt.
„In documentary work you cannot add or take anything out. You can do it in advertising or art, but not in documentary. That’s a very strict rule for me.“
© Ragnar Axelsson – Behind Mountains (Kehrer-Verlag)
Erzählen durch Präsenz, nicht durch Aktion
Axelsson interessiert sich nicht für Spektakel, sondern für das Langsame, das Verschwindende.
Seine Bilder handeln vom Warten, Wiederholen, Überdauern – nicht vom Moment der Sensation.
Das macht sie besonders stark in einer Zeit, in der visuelle Reize oft laut und grell daherkommen. Jedes Bild scheint eine Geschichte zu erzählen, ohne sie aufzudrängen.
Gestalterische Umsetzung
Der Bildband ist großzügig gestaltet, mit klarem Layout, stabilem Einband und hoher Druckqualität – die Graustufen wirken nuanciert, die Schwarzwerte satt.
Der Band enthält keine erklärenden Bildunterschriften, sondern überlässt die Deutung dem Betrachter.
Das Nachwort liefert Kontext, ohne sich aufzudrängen – es ist ein stilles Buch über stille Menschen, ganz im Sinne seines Autors.
Künstlerischer Kontext und Axelssons Selbstverständnis
Ragnar Axelsson versteht sich als dokumentarischer Erzähler, aber nicht im klassischen Reportagestil.
Er arbeitet wie ein Langzeitbeobachter, oft über Jahre hinweg, und lebt dabei mit den Menschen, die er porträtiert.
Seine Herangehensweise erinnert an die von W. Eugene Smith oder Mary Ellen Mark, deren Einfluss er selbst nennt.
„She kicked my ass. I said: I’m done. She said: You’re never done. When I thought I had the shot, I heard her voice: ‘Keep on taking pictures.’ And she was right.“
Besonders wichtig ist ihm Authentizität: „You have to live with people to understand them“, sagt er – und meint das wörtlich.
Er sieht sich als Chronist des Verschwindens: der Inuit-Kultur, der alten arktischen Jagdtraditionen, nun auch der isländischen Hochlandbauern. Dabei ist er kein Moralist – aber einer, der mahnt, ohne den Zeigefinger zu heben. Die Veränderungen des Klimas, der Strukturwandel im ländlichen Raum – sie sind **nicht Thema, sondern Subtext** seiner Bilder. Er zeigt, was ist – und lässt es für sich sprechen.
Fazit
„Behind Mountains“* ist ein leises, aber eindringliches Werk – ein Porträt nicht nur von Menschen, sondern von einer Lebensform im Rückzug.
Axelsson gelingt es, in seinen Bildern die Würde der porträtierten Menschen sichtbar zu machen, ohne sie zu verklären. Der Bildband ist reduziert, klar, poetisch – ein visueller Nachhall dessen, was bald verschwunden sein könnte.
Wer sich für dokumentarische Fotografie, Schwarzweißkunst und existenzielle Themen interessiert, wird in diesem Buch einen ruhigen, aber nachhaltigen Begleiter finden.
Es ist kein lautes Statement, sondern ein visuelles Vermächtnis – und eines der stärksten Werke Axelssons bislang.
„I never feel I have a good photograph. I always try to get it. It’s a lifetime’s quest. And if you ever think you’ve taken a good picture – you’re done.“
© Ragnar Axelsson – Behind Mountains (Kehrer-Verlag)
Podcast-Interview mit Ragnar Axelsson
“Behind Mountains – Ragnar Axelsson”*
Schwarzweißfotografie als Chronik des Verschwindens
Zwischen 2004 und 2017 dokumentierte Axelsson das Leben auf abgelegenen Höfen Nordost-Islands – fernab von Straßen, Zeit und Moderne.
In kraftvollen Schwarzweißbildern zeigt er Menschen, Tiere und Landschaften im Verschwinden. Kein Spektakel, sondern Würde, Stille und existenzielle Nähe zur Natur.
Ein eindrucksvoller Bildband über das Leben hinter den Bergen – und ein leiser Aufruf, genauer hinzusehen.
Weiterführende Links
Interview: “Where the world is melting” mit Ragnar Axelsson (mpb.com)
Ragnar Axelsson: „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“ (zingst.de)
Das könnte dich auch interessieren
Unterstützung für “Abenteuer Reportagefotografie”
*Bei einigen der Links auf dieser Website handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Wenn du die verlinkten Produkte kaufst, nachdem du auf den Link geklickt hast, erhalte ich eine kleine Provision direkt vom Händler dafür. Du zahlst bei deinem Einkauf nicht mehr als sonst, hilfst mir aber dabei, diese Webseite für dich weiter zu betreiben. Ich freue mich, wenn ich dir Inspiration für deine Kamera-Abenteuer biete.
Falls du Danke sagen möchtest, kannst du mir per PayPal eine Spende zukommen lassen. Oder du schaust auf meiner Amazon-Wunschliste vorbei. Dort habe ich Dinge hinterlegt, mit denen du mir eine Riesenfreude machen würdest.
Herzlichen Dank für deine Unterstützung!