Hast du dich schon einmal gefragt, warum manche Straßenfotos eine geheimnisvolle Kraft haben, obwohl auf den ersten Blick gar nicht viel zu sehen ist? Manchmal sind es nicht die Details, die die spannendste Geschichte erzählen, sondern genau das, was wir bewusst weglassen. Ganz im Sinne von Hemingways berühmtem Eisberg-Prinzip lauert unter der Oberfläche eines Bildes oft mehr als das, was im Vordergrund steht. Leere Räume, gezielte Andeutungen und ein empathischer Blick schärfen deine Bildsprache und lassen den Betrachter die fehlenden Stücke selbst ergänzen.
In diesem Beitrag entdeckst du, wie du mit bewusstem Weglassen und gezielten Leerflächen deinen Streetfotos mehr Tiefe und Spannung verleihst – und warum oft weniger mehr ist.
Hast du schon einmal ein Foto gesehen, das dich mit mehr Fragen als Antworten zurückließ – ein Bild, in dem die Lücke zwischen den sichtbaren Details das Kopfkino anwirft? Mir wurde das neulich erst wieder bewusst, als ich über Ernest Hemingways Eisberg-Prinzip stolperte.
In seinem Buch “Tod am Nachmittag”* (1932) beschreibt Hemingway die Kunst des Weglassens sinngemäß so:
“Wenn ein Autor genau weiß, was er nicht explizit erzählt, wird der Leser das Ausgelassene dennoch spüren – wie bei einem Eisberg, von dem nur ein Achtel sichtbar ist, während der Rest unter der Oberfläche verborgen bleibt.”
Mit anderen Worten: Nicht das Sichtbare allein trägt die Geschichte, sondern vor allem das Unsichtbare darunter.
Dieses literarische Prinzip inspirierte mich als Fotograf: Es öffnete mir die Augen dafür, dass auch Fotos oft mehr zeigen, als direkt auf ihnen zu sehen ist – wenn wir es zulassen.
In unserer Street Photography, diesem „Bolzplatz für die Reportage“, kann das bewusste Weglassen ein starkes Gestaltungsmittel sein.
Die Kunst des Weglassens bedeutet, Dinge nicht zu zeigen oder nur anzudeuten, um die Vorstellungskraft der Betrachter zu aktivieren.
In diesem Artikel sehen wir uns an, was dahinter steckt, welche Wirkung du damit erzielen kannst und wie du das Konzept effektiv in deine Streetfotos einarbeitest.
Was bedeutet „die Kunst des Weglassens“?
Im Kern geht es darum, beim Fotografieren Strategien des Auslassens anzuwenden.
Statt alles Offensichtliche mit in den Rahmen zu nehmen, entscheidest du dich bewusst dafür, Teile der Geschichte im Verborgenen zu lassen.
Ein gutes Foto muss nicht alles erklären – manchmal ist die Lücke die stärkste Aussage.
Dieses Prinzip ähnelt “Hemingways Eisberg-Theorie” in der Literatur: Zeige nur die Spitze der Geschichte im Bild und lass die restlichen sieben Achtel zwischen den Pixeln weiterleben.
Die Betrachter „lesen“ dann zwischen den visuellen Zeilen.
In der Fotografie spricht man oft vom Motto „weniger ist mehr“. Fotografieren heißt, aus der Fülle der Realität gezielt auszuwählen, was weggelassen wird. Während Maler auf einer leeren Leinwand immer mehr hinzufügen, starten wir Fotografen in einer reizüberfluteten Welt und müssen entscheiden, was wir nicht zeigen.
Das erfordert Mut zur Lücke und Vertrauen in die Vorstellungskraft des Publikums.
Warum lohnt sich das? Ganz einfach: Die besten Fotografien überlassen immer etwas der Fantasie.
Sie geben nicht alle Informationen preis, sondern lassen Raum zum Weiterdenken. Ein Bild, das alles bis ins Letzte erklärt, wird dagegen schnell langweilig und vorhersehbar.
Wir Menschen mögen es, zu rätseln und unsere eigenen Geschichten auszumalen. Wenn du also bewusst Dinge aus deinen Bildern heraushältst, steigen die Betrachter gewissermaßen als Mit-Erzähler in die Geschichte ein. Ein solches Foto wirkt oft länger nach und zieht uns tiefer hinein, weil wir aktiv beteiligt sind.
Diane Arbus, die berühmte amerikanische Fotografin, hat einmal gesagt:
„A picture is a secret about a secret, the more it tells you the less you know.“
Genau das ist die Kunst des Weglassens: Weniger direkt zeigen, um mehr im Gefühl der Betrachtenden auszulösen. Schauen wir uns an, wie sich dieses Prinzip konkret in der Street Photography anwenden lässt.
Andeutung statt Erklärung: Geschichten zwischen den Bildrändern
In Literatur und Fotografie gilt gleichermaßen: Nicht alles muss ausgesprochen oder sichtbar sein.
Andeuten heißt Vertrauen – du vertraust darauf, dass die Betrachter die fehlenden Teile der Geschichte selbst ergänzen können. Oft sind es gerade die Bilder, die weniger erklären, welche am stärksten nachhallen. Ein Streetfoto darf also ruhig Fragen aufwerfen, anstatt jede Antwort vorzukauen.
Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Foto „London 1978“ des argentinischen Fotografen Humberto Rivas.
Es zeigt einen fast leeren Raum mit nur drei zurückgelassenen Stühlen und kahlen Wänden.
Auf den ersten Blick passiert „nichts“ – doch genau dadurch passiert ganz viel im Kopf: Was ist aus den Menschen geworden, die dort einmal gelebt haben? Warum haben sie ihr Haus verlassen und die Stühle dagelassen?
Nichts davon wird im Bild erklärt, aber die stille Atmosphäre deutet eine ganze unsichtbare Geschichte an, die über den Bildrand hinaus weitergeht. Der Fotograf hat entschieden, was er zeigt (die leeren Stühle) und was er weglässt (die Menschen und ihre Schicksale). Das Sichtbare – die Spitze des Eisbergs – wird zum Auslöser für all das Unsichtbare darunter: Unsere Fantasie beginnt zu arbeiten, wir spinnen das Geschehen weiter.
Hier wirkt das Foto fast wie Hemingways Eisberg auf Zelluloid.
Ein anderes Beispiel für die Kraft der Andeutung ist Henri Cartier-Bressons ikonisches Bild eines Mannes, der über eine Pfütze springt (aufgenommen hinter dem Gare Saint-Lazare, Paris, 1932).
Henri Cartier-Bresson drückte im entscheidenden Moment ab – genau den Augenblick, bevor der Fuß des Mannes das Wasser berührt.
Die Szene friert ein unvollendetes Ereignis ein.
Wir sehen die ausgestreckte Silhouette über der Pfütze und ahnen förmlich, was als Nächstes passieren wird (den großen Splash) – aber wir sehen es nicht.
Gerade weil das Bild die Auflösung schuldig bleibt, wird es so faszinierend: Wir als Betrachter vollenden den Sprung in unserer Vorstellung. Das Ausgelassene – die Landung – ist im Kopf genauso präsent, als hätte der Fotograf sie mit abgelichtet.
Dieser Kunstgriff, den Höhepunkt außerhalb des Bildes stattfinden zu lassen, steigert die Spannung enorm.
Nimm ein Element ins Bild, aber lass die eigentliche Geschichte draußen.
Stelle dir ein Foto voller erwartungsvoller Gesichter vor – wir sehen die Spannung und Emotion in ihren Mienen, wissen aber nicht, worauf sie schauen.
Wie in diesem Beispiel.
Ein Mann in gelbem Brasilien-Trikot schreit, reißt sich die Sonnenbrille vom Kopf, sein Gesicht ein einziger Ausdruck von überwältigter Emotion. Um ihn herum: jubelnde, schreiende Menschen, eine vibrierende Mischung aus Spannung und Ekstase. Doch was fehlt, ist genau das, worauf sie reagieren. Wir sehen nicht, was sie sehen – und genau das macht das Bild so stark.
Die Szene ist voller Energie, doch ihr Auslöser bleibt außerhalb des Rahmens. Was hat diesen Moment ausgelöst? Ein Tor? Ein dramatischer Fehlschuss? Die Kamera verrät es nicht. Stattdessen lädt sie uns ein, die Geschichte selbst weiterzudenken. Wir spüren die Wucht des Geschehens – gerade weil das Entscheidende fehlt.
Und genau das ist die Kunst des Weglassens: Das Unsichtbare macht die Wirkung erst komplett.
Das Tolle an dieser Herangehensweise ist, dass die Fantasie des Publikums zum Co-Autor wird.
Als Fotograf brauchst du nicht jede Information servierfertig liefern.
Im Gegenteil: Indem du Andeutungen machst statt alles zu erklären, erhöhst du die Beteiligung der Betrachtenden. Sie füllen die Lücken mit eigenen Gefühlen, Erinnerungen und Deutungen.
So kann ein Foto im besten Fall eine ganze Welt zwischen den Bildpixeln entstehen lassen, ohne sie platt auszubuchstabieren.
Die Spitze des Eisbergs reicht, um die wuchtige unsichtbare Masse darunter zu erahnen.
Ein Bild, das Fragen aufwirft, bleibt im Gedächtnis, weil die Betrachter die Antworten selbst suchen (und oft finden) – ein Prozess, der deutlich nachhaltiger wirkt als passive Konsumtion fertiger Inhalte.
Leerräume statt Überfrachtung: Weniger ist oft mehr
Genauso wie ein Text überladen wirken kann, wenn er zu viel auf einmal sagen will, kann ein Foto an Wirkung verlieren, wenn es mit Informationen und Objekten überfrachtet ist.
In der Street Photography ist die Versuchung groß, möglichst viel Kontext einzufangen, damit die Geschichte „klar“ wird – paradoxerweise erreichst du oft das Gegenteil: Zu viele Elemente erschlagen den Blick, anstatt ihn zu fesseln.
Weniger ist oft mehr.
Gute Fotografen fragen sich bei jeder Aufnahme:
Was ist wirklich nötig?
Kann etwas raus?
Jedes Element im Bild trägt entweder zur Aussage bei – oder lenkt davon ab.
Deshalb gilt: Reduziere konsequent!
In der Bildkomposition bedeutet das, bewusst Leerraum zuzulassen.
Diese scheinbaren Lücken sind keine Mängel, sondern gestalterische Mittel: Sie lenken den Blick auf das Wesentliche und geben der Geschichte Raum zum Atmen.
Stell dir zum Beispiel eine Straßenszene vor: Ein einzelner Mensch sitzt auf einer Parkbank, und um ihn herum dehnt sich ein weiter, leerer Platz in der Nachmittagssonne. Kein weiterer Passant weit und breit. Würden nun dutzende Menschen durchs Bild wuseln, ginge die Stimmung verloren.
Gerade die visuelle Stille – der freie Raum um die Person – lässt uns ihre Einsamkeit oder Ruhe umso stärker spüren.
So wie eine Pause in der Musik einen Nachhall erzeugt, verstärkt Negativraum im Foto die Aussage: Das Gezeigte wirkt intensiver, weil nichts vom Wesentlichen ablenkt.
Tatsächlich gibt es in der Fotografie das Konzept Negative Space, den „leeren“ Raum im Bild.
Dabei wird ein großer Teil des Bildes absichtlich unbelegt gelassen, um das Hauptmotiv zu betonen.
Ein Beispiel dafür findest du in Foto-Fleißaufgabe #19, die sich ganz diesem negativen Raum widmet:
„Gute Fotos müssen nicht alles erklären. Manchmal ist die Lücke die stärkste Aussage.“
Wenn du beginnst, den leeren Raum als Gestaltungselement zu begreifen, verändert sich dein fotografischer Blick sofort.
Du suchst dann gezielt nach ruhigen Hintergründen, nach einfachen Szenen, wo du unwichtige Details weglassen kannst, um das Wichtige hervorzuheben. Verzicht als Gestaltungsmittel.
Ein gutes Streetfoto braucht also nicht zwangsläufig viel „Drumherum“.
Im Gegenteil: Ein einzelnes ausdrucksstarkes Detail kann tiefer unter die Haut gehen als ein komplett durchkomponiertes Wimmelbild. Leere Räume in einem Foto sind vergleichbar mit Weißraum in einem Design oder Stille in einem Musikstück – sie sind aktive Bestandteile der Komposition.
Sie verstärken das Vorhandene.
Wenn wir uns trauen, Details wegzulassen, schenken wir dem Hauptmotiv mehr Gewicht.
Das Auge des Betrachters bekommt Ruhepausen, um das Gesehene zu verarbeiten und mit eigenen Empfindungen zu füllen.
Manchmal genügt es, den Standpunkt oder Bildausschnitt zu ändern, um Unwichtiges aus dem Rahmen zu verbannen. Ein Schritt zurück, und störende Elemente am Rand verschwinden. Ein bewussteres Wählen des Bildausschnitts – und plötzlich hast du „Luft“ im Bild, die dem Hauptthema Raum gibt.
Diese Reduktion kann die Stimmung enorm beeinflussen: Ein schlichtes, aufgeräumtes Bild kann eine Atmosphäre von Klarheit, Melancholie oder Spannung erzeugen – je nachdem, was du zeigst und was du weglässt.
Wichtiger als das, was du zeigst, ist manchmal das, was du weglässt. Mach dir das bei jedem Druck auf den Auslöser bewusst.
Empathie statt Interpretation: Ehrliche Momente statt Zeigefinger
Hemingways Eisberg-Prinzip beruht auf Aufrichtigkeit: Das Ausgelassene spürt der Leser nur dann, wenn der Autor ehrlich und wissend schreibt – wer hingegen Lücken aus Unwissenheit lässt, erzeugt nur hohle Stellen im Werk.
Übertragen auf die Fotografie bedeutet das: Weglassen funktioniert nur, wenn du selbst genau weißt, was du tust.
Es geht hier also nicht darum, planlos Dinge zu entfernen, sondern strategisch und gefühlvoll zu entscheiden, was im Verborgenen bleibt. Der Schlüssel dazu ist Empathie – und zwar sowohl gegenüber dem Sujet als auch gegenüber dem Publikum.
Mit Empathie zu fotografieren heißt, dich wirklich auf die Menschen und Situationen einzulassen, die du festhältst.
Deine Kamera ist dann nicht mehr bloß ein distanziertes Beobachtungsgerät, sondern eine Verbindung zum Gegenüber.
So baute etwa Diane Arbus zu ihren ungewöhnlichen Motiven immer persönlichen Kontakt auf; Empathie war ihr wichtigstes Werkzeug.
Sie fotografierte Menschen am Rand der Gesellschaft (sogenannte „Freaks“) nicht aus Voyeurismus, sondern aus aufrichtigem Interesse. Anstatt die Porträtierten als Kuriositäten vorzuführen, begegnete sie ihnen auf Augenhöhe – und genau das spürt man in ihren Bildern.
Andere warfen Arbus vor, sie würde ihre Motive bloßstellen; doch viele loben sie gerade für ihr Mitgefühl und ihre Menschlichkeit, „finden in ihrer Arbeit eine Empathie für benachteiligte Sujets, wie man sie sonst nur bei den großen humanistischen Fotografen findet“.
Das Ergebnis ihrer Herangehensweise sind Fotos, die zwar verstören mögen, aber zugleich zutiefst menschlich berühren – ohne dass Arbus dem Publikum mit Bildunterschriften vorschreibt, was es davon zu halten hat.
Genau darum geht es: Empathie statt Interpretation aufzuzwingen. Wenn wir beispielsweise obdachlose Menschen fotografieren, haben wir als Fotograf immer eine Wahl.
Wir können entweder Klischees bedienen und mit dem Zeigefinger eine vorgefertigte Botschaft transportieren („Schaut her, wie elend!“) – oder wir nähern uns der Person mit Einfühlungsvermögen und zeigen einen echten Moment aus ihrem Leben, ohne Wertung. Letzteres erfordert mehr Zeit, Offenheit und Ehrlichkeit, doch das entstehende Foto spricht auf einer tieferen Ebene.
Es bewertet nicht; es erlaubt den Betrachtenden, selbst zu empfinden.
Viele große Street- und Reportagefotografen verzichten bewusst auf übertriebene Inszenierung oder aufdringliche Aussagen, um dem Publikum die Freiheit zu lassen, eigene Schlüsse zu ziehen.
Statt mit einem plakativen Schild die Deutung vorzugeben, weckt ein empathisch entstandenes Foto Mitgefühl und Verständnis. Der Betrachter sieht die Szene und fühlt, anstatt nur eine beschriftete Botschaft zu konsumieren.
Zeig weniger, fühle mehr.
Vertrauen ist hier entscheidend – Vertrauen darauf, dass deine Zuschauer zwischen den Zeilen lesen (bzw. zwischen den Pixeln sehen) können und dass ein ehrlich eingefangenes Bild keine zusätzlichen Erklärungen benötigt.
So integrierst du das Weglassen in deine Street Photography
Theorie ist schön und gut – aber wie übt man die Kunst des Weglassens nun konkret?
Hier sind ein paar Impulse und praktische Übungen für deinen nächsten Foto-Walk, mit denen du das Prinzip Weniger zeigen, mehr erzählen ausprobieren kannst:
Perspektive wählen und Rahmen setzen
Versuche bei deiner nächsten Fototour, bewusst zu entscheiden, was du nicht ins Bild nimmst. Schau durch den Sucher oder aufs Display und frage dich: Brauche ich dieses Detail wirklich? Wenn nicht, ändere den Bildausschnitt oder die Position, bis störende Elemente verschwinden.
Beweg dich ruhig – ein Schritt zur Seite oder zurück kann schon Wunder bewirken.
Mach es dir zur Gewohnheit, beim Komponieren immer auch ans Weglassen zu denken.
Andeuten statt direkt zeigen: Nimm dir vor, ein Foto zu machen, bei dem das Wesentliche außerhalb des Rahmens passiert. Zum Beispiel könntest du die Reaktionen von Menschen festhalten, ohne das Ereignis selbst zu zeigen, das diese Reaktionen auslöst. Fotografiere Zuschauer in gespannter Haltung, Blicke, die auf etwas Unsichtbares gerichtet sind.
Oder zeige den Schatten eines Ereignisses, aber nicht das Ereignis.
Beobachte, wie solche Bilder automatisch Fragen beim Betrachter aufwerfen – genau das willst du erreichen.
Mit Leerraum spielen
Suche Motive, bei denen Negative Space eine Rolle spielt.
Das kann eine interessante Wand sein, vor der nur eine einzelne Person steht, oder ein großer Himmel über einer flüchtigen Straßenszene.
Positioniere dein Hauptmotiv mal ungewöhnlich (z.B. am Bildrand), sodass viel leerer Raum im Foto bleibt. Achte darauf, dass dein Motiv sich vom Hintergrund abhebt (Kontrast in Farbe, Helligkeit oder Schärfe).
Mache eine kleinen Serie: z.B. fünf Fotos, bei denen mindestens die Hälfte des Bildes „leer“ ist. Du wirst merken, wie die Stille im Bild die Aussage verändert und oft verstärkt.
Details weglassen, Aussage verstärken
Fordere dich selbst heraus, ein komplexes Street-Thema mit wenigen Details darzustellen.
Statt alles auf einmal zu zeigen, konzentriere dich auf ein Schlüsselelement, das die Geschichte symbolisiert.
Statt eine ganze Demonstration mit Tausenden Leuten abzulichten, fotografiere nur eine zurückgelassene Protestplakette auf dem Boden – sie impliziert das Größere drumherum.
Oder fotografiere die Hände zweier Menschen, die sich berühren, anstatt ihre ganzen Körper – manchmal erzählt eine Geste mehr als ein Ganzkörper-Porträt.
Geduld und Beobachtung
Setze dich an einen Ort mit Potenzial (ein belebter Platz, ein Café, eine Bushaltestelle) und beobachte, was passiert.
Warte auf den Moment, in dem eine kleine Szene eine größere Geschichte andeutet. Vielleicht lacht plötzlich jemand los und schaut nach links – aber du fotografierst nur die lachende Person, nicht das, was sie sieht.
Solche Momente erfordern Geduld. Du „fischst“ förmlich nach Situationen, in denen du durch Weglassen Spannung erzeugen kannst.
Echte Emotion vor Perfektion
Nimm dir vor, beim nächsten Mal nicht die technisch perfekteste, sondern die ehrlichste Aufnahme zu machen.
Wenn du jemanden fotografierst, versuche vorher mit der Person ins Gespräch zu kommen oder zumindest eine non-verbale Verbindung herzustellen.
Fange authentische Ausdrücke ein – ein echtes Lächeln, einen verträumten Blick, eine nachdenkliche Geste – und verzichte darauf, alles im Umfeld zu erklären.
Vertraue darauf, dass die Emotion im Bild reicht, um den Rest mitschwingen zu lassen.
Wie Hemingway sagte: Wenn du weißt, was du weglässt, wird der Betrachter das Fehlende genauso stark empfinden.
Hab Mut zur Lücke!
Anfangs fühlt es sich vielleicht ungewohnt an, nicht alles ins Bild packen zu wollen.
Doch denke immer daran, was ein großartiges Foto ausmacht: Es zieht dich hinein, es bleibt haften, es berührt – und oft gelingt das gerade dann, wenn nicht alles auf den ersten Blick klar ist.
Übung macht auch hier den Meister.
Je mehr du dich in der Kunst des Weglassens übst, desto besser wirst du abschätzen können, welche Teile einer Szene dein Foto wirklich braucht – und welche nicht.
Weniger zeigen, mehr fühlen
Die Kunst des Weglassens lehrt uns Fotografen, Mut zur Lücke zu haben – und darauf zu vertrauen, dass das Unsichtbare im Bild miterzählt wird.
Andeutung statt Erklärung, Leere statt Überfrachtung, Empathie statt erhobener Zeigefinger: Mit diesen Zutaten wird aus einem Foto mehr als nur eine Abbildung der Oberfläche.
Du verleihst deinen Aufnahmen Tiefe und erlaubst dem Betrachter, sich die verborgenen sieben Achtel der Geschichte selbst zu erschließen.
In der Praxis kann es hilfreich sein, beim Fotografieren hin und wieder innezuhalten und dich selbst zu fragen:
Erzähle ich gerade zu viel?
Wäre mein Bild stärker, wenn ich weniger zeige und stattdessen Raum für Fantasie lasse?
Habe ich wirklich verstanden und gefühlt, was ich da festhalte – so sehr, dass ich nichts Künstliches hinzufügen muss?
Wenn du diese Fragen mit “Ja” beantworten kannst, stehen die Chancen gut, dass dein Foto eine ehrliche Geschichte erzählt, die unter die Oberfläche geht.
Am Ende ist die Reportage- und Streetfotografie gar nicht so anders als die Kunst des Schreibens: Es geht darum, einen Wahrheitskern freizulegen, ohne ihn zu erdrücken.
Ein gelungenes Bild nach dem Eisberg-Prinzip berührt uns, weil es nicht alles ausspricht.
Es bleibt im Gedächtnis, weil es Raum lässt. Und es inspiriert uns, weil wir spüren, dass zwischen den sichtbaren Zeilen – oder vielmehr Pixeln – noch ein ganzes Meer an Bedeutung liegt.
Weniger zeigen, mehr fühlen: Dieses Motto darf dich ab jetzt begleiten, wenn du mit der Kamera auf der Straße unterwegs bist.
Viel Spaß beim Ausprobieren!
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