
Herzlich willkommen zu einer neuen Foto-Fleißaufgabe! Du weißt ja: Wir nennen die Streetfotografie gerne unseren „Bolzplatz für die Reportage“ – hier kannst du dich frei austoben, neue Techniken ausprobieren und dein Auge für den besonderen Moment schärfen.
Es geht nicht darum, von Anfang an perfekte Bilder zu machen, sondern darum zu üben, zu experimentieren und mit jeder Aufnahme besser zu werden.
Diese Aufgabe widmet sich einem Thema, das die Realität scheinbar auf den Kopf stellt und uns dazu bringt, zweimal hinzusehen: Spiegelungen.
Spiegelungen: Mehr als nur ein Abbild der Realität
Was sind Spiegelungen in der Fotografie? Kurz gesagt: die Basis für kleine visuelle Wunder.
Spiegelungen entstehen, wenn Licht von einer reflektierenden Oberfläche – zum Beispiel Glas, Wasser oder poliertem Metall – zurückgeworfen wird. Für die Fotografie bedeutet das, dass du eine zweite Bildebene in deinen Frame holst, oft mit einer ganz eigenen Szene.
Diese Überlagerung von Motiven und Realitäten ist es, was das Spiel mit Spiegelungen so faszinierend macht. Es ist eben nicht bloß ein doppeltes Abbild der Wirklichkeit, sondern eine künstlerische Verdopplung, bei der zwei Welten in einem einzigen Foto miteinander verschmelzen.
Warum sind Spiegelungen so reizvoll in der Streetfotografie?
Die Streetfotografie lebt von den flüchtigen Momenten des Alltags, doch die Straße kann auch chaotisch und visuell unruhig sein. Genau hier kommen Spiegelungen ins Spiel: Sie ermöglichen es dir, diesem Chaos eine neue Ordnung und spannende Komplexität zu verleihen. Mit Reflexionen kannst du gewissermaßen eine doppelte Geschichte erzählen, die den Betrachter verwirrt und gleichzeitig fesselt.
Es ist wie ein visuelles Puzzle – was ist die echte Szene und was die Spiegelung? – und genau dieses Rätsel weckt Neugier. Dein Bild zieht die Aufmerksamkeit länger auf sich, weil der Betrachtende die verschiedenen Ebenen entschlüsseln will.
Der visuelle Zauber der „dualen Realität“ besteht darin, dass ein Spiegelungsfoto zwei Geschichten gleichzeitig erzählt.
Ein normales Streetfoto fängt in der Regel einen Moment und eine Ebene ein, doch mit einer Reflexion bringst du plötzlich eine zweite, oft unabhängige Szene ins Bild. Vordergrund und Spiegelbild sind gleichzeitig sichtbar, und das Gehirn versucht instinktiv, diese beiden Ebenen zu einer logischen Einheit zusammenzufügen. Das Ergebnis ist eine faszinierende Verwirrung, die die Neugierde weckt und dafür sorgt, dass man länger hinschaut.
Als Fotograf wirst du so zum Erzähler einer Geschichte, die parallel auf der Straße und im Spiegel stattfindet. Dieses Konzept ist weit mehr als ein technischer Trick – es fordert die Wahrnehmung heraus und eröffnet dir die Möglichkeit, kreative, fast surreale Bildgeschichten zu gestalten.
Die Meister der Reflexion: Saul Leiter und Lee Friedlander
Schauen wir uns zwei Fotografen an, die Spiegelungen meisterhaft eingesetzt haben – jedoch auf ganz unterschiedliche Weise.
Der malerische Blick: Saul Leiter. Wenn es um Reflexionen und komplexe Straßenkompositionen geht, kommt man an Saul Leiter kaum vorbei. Leiter war ein Pionier der Farb-Streetfotografie und ursprünglich Maler, der zur Kamera fand. Entsprechend sah er die Welt weniger als Aneinanderreihung von Schnappschüssen, sondern als abstrakte Kompositionen aus Farbe, Form und Licht. Spiegelungen, beschlagene Scheiben und Regen gehörten zu seinen bevorzugten Stilmitteln, um eine traumartige, poetische Ästhetik zu schaffen.
Er setzte bewusst auf Unschärfen und Mehrdeutigkeiten, damit der Betrachter aktiv hinschauen und die Details selbst entdecken muss. Leiter selbst brachte es treffend auf den Punkt:
„Ich mag es, wenn man sich nicht sicher ist, was man sieht. Wenn wir nicht wissen, warum der Fotograf ein Bild gemacht hat, und wenn wir nicht wissen, warum wir es betrachten, entdecken wir plötzlich etwas, das wir anfangen zu sehen. Ich mag diese Verwirrung.“ – Saul Leiter
Mit anderen Worten: Leiter mochte es, wenn seine Fotos Fragen aufwerfen. In seinen Bildern darf man ruhig ein bisschen rätseln. Genau dieses Gefühl erzeugen auch seine Spiegelungen – sie sind oft malerisch, unscharf und geheimnisvoll, so dass man das Motiv erst auf den zweiten Blick richtig erkennt.
Der bewusste Blick: Lee Friedlander. Ein weiterer Meister der Reflexion ist Lee Friedlander, der jedoch einen ganz anderen Ansatz verfolgte. Friedlander ist bekannt für seine komplexen Schwarzweiß-Kompositionen, in denen er häufig sein eigenes Spiegelbild oder seinen Schatten mit ins Bild einbezieht.
Für ihn war die Kamera nicht einfach ein unsichtbarer Beobachter, sondern ein Werkzeug, um seine Präsenz in der Szene festzuhalten. Das bewusste Einbauen des eigenen Spiegelbilds war für Friedlander ein künstlerisches Statement: Er wollte zeigen, dass er Teil der Situation war und nicht nur ein unsichtbarer Zuschauer. Damit brach er mit der traditionellen Streetfotografie-Idee, möglichst unbemerkt zu bleiben. Friedlanders Philosophie lässt sich mit seinen eigenen Worten beschreiben:
„Man muss nicht nach Bildern suchen. Das Material ist großzügig. Du gehst raus und die Bilder starren dich an.“ – Lee Friedlander
Dieses Zitat zeigt Friedlanders Haltung zur Straße: Überall lauern Motive – einschließlich des Fotografen selbst. In seinen Bildern dokumentiert er nicht nur die Außenwelt, sondern auch seine eigene Anwesenheit darin. Ein Schatten auf dem Bürgersteig oder ein Schemen in einer Schaufensterscheibe wird bei ihm zur persönlichen Signatur.
Die Arbeiten dieser beiden Fotografen machen deutlich, dass Spiegelungen weit mehr sind als nur technische Spielereien – sie sind mächtige erzählerische Werkzeuge.
Der Fotograf darf auch Teil der Szene sein. Friedlanders Ansatz zeigt, dass das eigene Spiegelbild kein Fehler sein muss, sondern eine bewusste gestalterische Entscheidung sein kann. Klassischerweise versuchen Streetfotografen ja, unsichtbar zu bleiben, um authentische Momente einzufangen – so, als wären sie gar nicht da.
Friedlander kehrt diese Idee um, indem er sich selbst ins Bild setzt. Die Wirkung ist bemerkenswert: Das Foto wird zu einem subjektiven Dokument. Es zeigt nicht nur, was der Fotograf gesehen hat, sondern auch wie er es gesehen hat – nämlich durch die Scheibe, inklusive seines eigenen Abbilds. Dadurch entsteht eine zusätzliche Ebene von Selbstreflexion und Ehrlichkeit.
Es wird klar, dass die Anwesenheit des Fotografen ohnehin unvermeidlich ist, und anstatt diese zu verstecken, wird sie zum kreativen Bestandteil des Bildes. Diese Haltung verwandelt eine potenzielle Herausforderung – nämlich Spiegelungen, in denen man sich selbst sieht – in ein kraftvolles Gestaltungsmittel.
Der Weg zum Spiegelfoto: Praktische Herangehensweise
Wie gelingt dir nun selbst ein starkes Spiegelungsfoto auf der Straße?
Hier ein paar praktische Tipps
Trainiere dein Auge – Spiegelungen entdecken
Die erste Aufgabe besteht darin, dein Auge so zu schulen, dass du Spiegelungen überall wahrnimmst. Hör auf, die Welt nur „normal“ zu sehen, und halte gezielt nach reflektierenden Oberflächen Ausschau! Schaufenster, Glastüren, die Glasfassaden moderner Gebäude, Pfützen nach dem Regen, polierte Autos, metallische Flächen oder sogar Sonnenbrillen – überall können überraschende Spiegelbilder lauern. Nimm dir beim nächsten Fotostreifzug bewusst vor, mindestens X Spiegelungen zu finden und ins Bild zu setzen. Anfangs mag das ungewohnt sein, aber je öfter du dich dazu zwingst, desto mehr wird es zur zweiten Natur.
Bald fragst du dich: „Wie konnte mir das vorher alles entgehen?“
Der Zauber des richtigen Blickwinkels
Dein Standort und Winkel entscheiden oft über Erfolg oder Misserfolg bei Spiegelfotos. Schon eine kleine Änderung der Position kann störende Reflexe verschwinden lassen oder die gesamte Komposition verbessern. Ein Tipp: Geh in die Hocke – oder noch besser, leg dich (wenn die Situation es zulässt) auf den Boden! Aus der Froschperspektive, direkt über einer Pfütze, kannst du beeindruckende Effekte erzielen: Die Welt spiegelt sich kopfüber im Wasser und wirkt plötzlich verzerrt, größer oder surreal.
Generell gilt: Experimentiere mit dem Winkel. Bewege dich nach links und rechts, hoch und runter, näher ran oder weiter weg vom Spiegel. Manchmal findet man erst nach ein paar Schritten den perfekten Winkel, bei dem die Spiegelung genau das zeigt, was man haben möchte – ohne dass die eigene Kamera oder andere störende Elemente im Weg sind.
Timing ist alles – Geduld zahlt sich aus
Gute Spiegelfotos entstehen selten durch bloßen Zufall. Häufig stecken Geduld und Beobachtung dahinter. Wenn du eine tolle Reflexion entdeckt hast, bleib einen Moment stehen. Überlege, was diesem Bild noch fehlt. Vielleicht eine Person, die durch die Spiegelung läuft? Ein Auto, das an der richtigen Stelle vorbeikommt? Warte auf den passenden Augenblick, anstatt sofort weiterzugehen. Streetfotografie heißt auch, vorausschauend zu beobachten: Suche dir eine Bühne – zum Beispiel eine Glasfront mit einer interessanten Reflexion – und warte, bis das richtige Motiv die Bühne betritt. Sei bereit, genau dann auszulösen, wenn alles zusammenpasst.
Spiegelungen können dein Kontrollpunkt im Straßenchaos sein. Während Streetfotografie oft als unkontrollierbar und hektisch empfunden wird, bieten reflektierende Flächen die Chance, dem Chaos einen Anker entgegenzusetzen. Anstatt die ganze Szene gleichzeitig einfangen zu wollen, konzentrierst du dich auf einen festen Punkt – z.B. ein Schaufenster oder eine Pfütze – und wartest dort geduldig auf den perfekten Moment.
Die Spiegelung wird zur kleinen Bühne im großen Straßengetümmel, auf der du dein „Stück“ inszenierst. Dieser Ansatz verwandelt das schnelle, spontane Knipsen in ein bewusstes Komponieren eines Bildes.
Die Fleißaufgabe: Jetzt bist du dran!
Spiegelungen zu fotografieren ist vor allem eins: eine Übung für deinen Blick und deine Intuition. Es erfordert Geduld und Experimentierfreude – aber es macht auch richtig Spaß, weil du die Welt plötzlich mit ganz anderen Augen siehst. Die folgenden Aufgaben sind deine persönliche Trainings-Session auf dem „Street-Bolzplatz“. Probier sie aus und lass dich überraschen, was du dabei lernst!
Aufgabe 1: Die Pfützen-Challenge
Ziel: Nutze Wasser als Spiegel und drehe damit die Welt sprichwörtlich auf den Kopf.
Warte auf einen Regenschauer – oder sei kreativ und erschaffe deine eigene Pfütze (eine Flasche Wasser im Rucksack wirkt Wunder). Suche dir anschließend eine interessante Szene oder Kulisse, die sich im Wasser spiegeln soll. Gehe in die Hocke oder lege dich flach auf den Boden, um die Perspektive möglichst nah über der Wasseroberfläche zu halten. Jetzt komponiere dein Bild: Was spiegelt sich im Wasser? Ein Gebäude? Ein Mensch? Spiele mit dem Blickwinkel und dem Fokus, bis du eine faszinierende Spiegelung eingefangen hast. Bonus-Tipp: Dreh das fertige Foto um 180° – so steht die gespiegelte Welt plötzlich richtig herum und sorgt für Verblüffung.
Aufgabe 2: Das Schaufenster-Puzzle
Ziel: Kombiniere die Geschichte hinter dem Glas mit der Geschichte, die sich darin spiegelt.
Suche dir ein Schaufenster mit spannendem Innenleben – etwa ein dekoriertes Schaufenster, ein Café oder eine U-Bahn-Tür. Beobachte nun, was sich darin spiegelt: Vielleicht die Straße gegenüber, Passanten oder Fahrzeuge? Positioniere dich so, dass innen und außen zusammen ein interessantes Bild ergeben. Zum Beispiel könntest du warten, bis eine Person exakt an der Stelle in der Spiegelung erscheint, wo sie mit dem Innenmotiv interagiert (etwa ein Fußgänger „läuft“ im Spiegelbild über die Schaufensterpuppe hinweg). Sei kreativ und schaffe ein Bild, das wie ein visuelles Puzzle wirkt. Der Betrachter soll überlegen: Was ist hier echt, was Spiegelung, und wie hängen die Elemente zusammen?
Aufgabe 3: Outside-Inside
Ziel: Porträtiere eine Person hinter Glas und nutze die Außenreflexionen als erzählerisches Element.
Finde einen Ort, an dem du Menschen hinter Glas fotografieren kannst – zum Beispiel jemand, der am Fenster eines Cafés sitzt, oder Fahrgäste in einer Straßenbahn. Die Herausforderung: Du fotografierst durch die Scheibe hindurch, gleichzeitig spiegelt sich die Außenwelt darin. Positioniere dich frontal zum Fenster und trage möglichst dunkle Kleidung, um deine eigene Reflexion zu minimieren. Jetzt heißt es beobachten und warten: Achte darauf, wie sich die Straßen-Szenerie im Fenster spiegelt. Vielleicht fährt ein Bus vorbei oder ein Radfahrer, der genau über dem Gesicht der Person reflektiert wird? Warte auf den perfekten Moment, in dem drinnen und draußen eine Geschichte ergeben. Drücke ab, wenn die Lichtstimmung und die Anordnung der Reflexionen genau richtig sind. Das Ergebnis kann ein vielschichtiges Porträt sein, das die Person und ihr Umfeld zugleich zeigt.
Aufgabe 4: Die eigene Reflexion
Ziel: Werde selbst zum Motiv – spielerisch und bewusst.
Wage ein Selbstporträt der etwas anderen Art: Suche dein eigenes Spiegelbild in der Stadt. Ob in einer Schaufensterscheibe, in einer verspiegelten Fassade oder im Chrom eines Motorrads – überall kannst du dich selbst entdecken.
Versuche, deinen Schatten oder dein Spiegelbild ganz bewusst ins Bild zu integrieren. Experimentiere mit verschiedenen Hintergründen, in denen du auftauchst. Vielleicht fotografierst du deinen Schatten, der sich über ein Objekt auf der Straße legt, oder dein Spiegelbild, das in einer Glasscheibe mit einem Plakat „verschmilzt“.
Es geht nicht darum, dich perfekt in Szene zu setzen, sondern darum, bewusst Teil der Szene zu werden.
Dieses Spiel mit der eigenen Präsenz schärft dein Bewusstsein dafür, wie sehr du als Fotograf*in das Bild beeinflusst.
Du möchtest Feedback zu deinen Street-Bildern?
Mit den Teilnehmer:innen der Visual Storytelling Akademie von “Abenteuer Reportagefotografie” veranstalten wir regelmäßige Bildbesprechungen bei Zoom.
Dabei bekommst du konstruktives Feedback zu deinen eingereichten Street-Bildern und lernst aus den Diskussionen mit den anderen.