Wer war Diane Arbus? Ikone, Grenzgängerin und Spiegel unserer Gesellschaft

In dieser besonderen Folge bekommst du einen exklusiven Einblick in unsere Serie "Lernen von den Meisterinnen und Meister der Fotografie". Diesmal widmen wir uns der faszinierenden Diane Arbus – einer Frau, die mit ihrer Kamera dorthin ging, wo andere weggeschaut haben.

Wir beleuchten, warum Arbus’ Bilder auch heute noch berühren, irritieren und zum Nachdenken anregen.

Es geht um Empathie, um Mut zur eigenen Vision – und um die Kraft, mit Fotografie Dinge sichtbar zu machen, die sonst im Verborgenen bleiben würden.

Wir sprechen über ihre bekanntesten Bilder, ihre Biografie, prägende Zitate und die Frage, was wir heute von ihr lernen können.

Eine Folge, die zeigt, wie Fotografie weit über das Visuelle hinaus wirken kann.

For me the subject of a picture is always more important than the picture. And more complicated.
— Diane Arbus

Biografie: Vom Modeatelier in die Straßenschluchten New Yorks

Diane Arbus, geboren am 14. März 1923 in New York City als Diane Nemerov, wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf.

Ihre Eltern besaßen ein exklusives Kaufhaus an der Fifth Avenue; Diane fühlte sich daher lange Zeit „immun und ausgenommen von den Umständen“ – fern der Alltagssorgen vieler Menschen.

Dieses Aufwachsen ohne spürbare Widrigkeiten hinterließ in ihr ein Gefühl von Irrealität, wie sie selbst bekannte.

Früh suchte sie nach dem „Wirklichen“ hinter der glitzernden Fassade.

Mit 18 Jahren heiratete sie Allan Arbus, mit dem sie zunächst als Modefotografin arbeitete.

In den 1940er und 50er Jahren produzierte das Paar erfolgreich Aufnahmen für Magazine wie Vogue und Glamour.

Diane Arbus jedoch begann diese Welt der perfekten Oberfläche zu hassen.

Sie spürte, dass die Hochglanz-Ästhetik der Mode nicht die Wahrheit über Menschen erzählte.

1956 wandte sich Arbus entschieden von der Modefotografie ab und schrieb sich in einen Workshop bei der legendären Fotografielehrerin Lisette Model ein.

Dieses Training bei Model wurde zum Wendepunkt ihrer Karriere.

Model ermutigte Arbus, radikal eigene Wege zu gehen und sich ihren wahren Interessen zu widmen.

Arbus erinnerte sich:

„Meine Lehrerin Lisette Model machte mir schließlich klar, je konkreter man ist, desto allgemeiner wird die Aussage.“

Mit anderen Worten: Anstatt „den Mann auf der Straße“ allgemein abzulichten, sollte Arbus die Einzigartigkeit jedes Individuums herausarbeiten – darin liege eine universelle Kraft.

Dieses Prinzip wurde fortan zum Leitmotiv ihrer Fotografie.

Ende der 1950er Jahre begann Diane Arbus, ihre eigenen Fotoprojekte voranzutreiben.

Sie suchte nach Motiven jenseits der schicken Studios – draußen in New York, auf Coney Island, in zwielichtigen Bars, in Vergnügungsparks.

Gleichzeitig knüpfte sie Verbindungen zur Verlagswelt und konnte zwischen 1960 und 1970 zahlreiche Fotoserien in Magazinen veröffentlichen.

Ihre Reportagen erschienen etwa in Esquire, Harper’s Bazaar, der New York Times und anderen namhaften Blättern.

Bemerkenswerterweise waren es oft außergewöhnliche Porträts von Exzentrikern, die sie im Auftrag dieser Magazine schuf – damals ein Novum in der Hochglanzpresse.

Zwei Guggenheim-Stipendien (1963 und 1966) gaben ihr zudem finanzielle Freiheit, um eigeninitiativ an ihren liebsten Themen zu arbeiten.

1967 folgte Arbus’ großer Durchbruch in der Kunstwelt

John Szarkowski, Fotochef des Museum of Modern Art, lud sie ein, gemeinsam mit Garry Winogrand und Lee Friedlander in der Ausstellung “New Documents” auszustellen.

Arbus’ Aufnahmen von “Menschen am Rande” elektrisierten das Publikum.

Ihre Porträts – ob von einer Drag Queen in der eigenen Wohnung oder von einem geistig behinderten Paar auf einer Parkbank – galten als so ungewöhnlich, dass manche Besucher schockiert reagierten.

Es wird berichtet, dass einige Betrachter die Bilder sogar anspuckten, weil sie solche „Freaks“ nicht im Museum sehen wollten.

Doch andere – wie der Kritiker Hilton Kramer – feierten Arbus’ Werk als „künstlerischen und menschlichen Triumph“, weil sie sich in die Lebenswelt von als abnormal abgestempelten Personen einfühlen konnte. Diane Arbus hatte es gewagt, die festgefügten Grenzen der ästhetischen Normen aufzubrechen.

Trotz der Aufmerksamkeit blieb Arbus finanziell auf Aufträge angewiesen und nahm in den späten 1960ern zusätzlich Lehraufträge an Kunstschulen an.

Sie zog 1969 in das Künstlerviertel Westbeth in Manhattan und begann dort, an ihrer vielleicht intensivsten Serie zu arbeiten: Fotos von Bewohnern einer Heimstätte für geistig Behinderte.

Diese später als „Untitled“-Serie bekannten Bilder zeigen eine Mischung aus Zärtlichkeit und Verstörung und sollten erst posthum veröffentlicht werden.

Parallel dazu litt Diane Arbus an schweren Depressionen, die sich über Jahre hinweg verstärkten.

Am 26. Juli 1971 nahm sich Diane Arbus in New York das Leben.

Sie wurde nur 48 Jahre alt.

Ihr Freitod – Arbus schluckte eine Überdosis Barbiturate und schnitt sich die Pulsadern auf – schockierte die Fotografieszene.

Ihr Freund Marvin Israel fand sie wenige Tage später in ihrer Wohnung.

Doch Diane Arbus’ Geschichte endet nicht mit ihrem Tod.

Posthum setzte ein beispielloser Erfolg ein

1972 wurde sie als erste US-Fotografin auf der Biennale in Venedig gezeigt.

Im gleichen Jahr eröffnete das MoMA eine große Retrospektive mit Arbus’ Bildern, die zum Besucherrekord wurde.

Die New Yorker standen bis um den Block herum Schlange – so groß war das Interesse. „Die Menschen gingen durch diese Ausstellung, als würden sie für die Kommunion anstehen“, erinnerte sich Szarkowski später.

Diane Arbus war innerhalb eines Jahres nach ihrem Tod zu einer Legende der Fotokunst geworden.

Das berühmte Aperture-Monographiebuch Diane Arbus erschien ebenfalls 1972 und zählt bis heute zu den meistverkauften Fotobüchern überhaupt.

Es war, als habe Arbus mit ihren Bildern endlich einen Nerv getroffen: Niemand zweifelte mehr daran, dass Fotografie Kunst sein kann.

Zitate: Diane Arbus in ihren eigenen Worten

Arbus hat zeitlebens über ihr Schaffen reflektiert und dabei bemerkenswert offene Einblicke gegeben.

Die folgenden Zitate von ihr zeigen, was sie antrieb und wie sie sich selbst als Fotografin sah:

A photograph is a secret about a secret. The more it tells you the less you know.
— Diane Arbus
I really believe there are things nobody would see if I didn’t photograph them.
— Diane Arbus
There are an awful lot of people in the world and it’s going to be terribly hard to photograph all of them... It was my teacher Lisette Model who finally made it clear to me that the more specific you are, the more general it will be.
— Diane Arbus
I work from awkwardness. By that I mean I don’t like to arrange things. If I stand in front of something, instead of arranging it, I arrange myself.
— Diane Arbus

Dieses letzte – oft zitierte Statement – umschreibt Arbus’ fotografische Methode auf besonders deutliche Weise.

Sie versuchte nie, ihre Motive künstlich zu inszenieren.

Stattdessen passte sie sich selbst der Situation an, um das Echte entstehen zu lassen.

Sie war bereit, sich unbequem zu fühlen („awkwardness“), nur um den Menschen vor der Linse Raum zur Entfaltung zu geben.

Ihre Modelle sollten sich nicht verstellen müssen – Arbus „arrangierte“ lieber die eigene Position, legte sich etwa flach auf den Boden oder zog sich mit aus, wenn es die Situation erforderte, um authentische Bilder zu erzielen.

Sie sah sich als Entdeckerin des Verborgenen, wollte echte Begegnungen statt inszenierter Abbilder und war bereit, persönliche Komfortzonen zu verlassen, um das Besondere jedes Menschen festhalten zu können.

Ikonische Bilder

Einige Aufnahmen von Diane Arbus sind längst Ikonen der Fotogeschichte geworden.

Sie entfalten bis heute ihre eigentümliche Wirkung und stehen exemplarisch für Arbus’ Themen.

Im Folgenden werfen wir einen Blick auf drei ihrer bekanntesten Bilder und die Geschichte dahinter.

Identical Twins, Roselle, N.J., 1967

Zwei etwa siebenjährige Zwillingsmädchen mit exakt denselben dunklen Kleidern, weißen Kragen und Haarbändern blicken frontal in die Kamera.

Eines der Mädchen lächelt sacht, das andere schaut mit ernster Miene – ein minimaler Unterschied, der das Foto so unheimlich wirken lässt.

Diese Aufnahme entstand auf einer Weihnachtsfeier für Zwillinge und Drillinge, bei der Arbus die Schwestern Cathleen und Colleen zufällig entdeckte.

Was für die Fotografin ein Glücksfall war, sahen die Eltern der Mädchen kritisch:

„Wir dachten, das sei das schlechteste Abbild unserer Zwillinge, das wir je gesehen haben“, kommentierte der Vater später enttäuscht.

Tatsächlich verdichtet Arbus in diesem Bild ihr zentrales Thema – Identität und Anderssein.

„Sie war immer mit der Frage beschäftigt: Wer bin ich und wer bist du?“, erklärte ihre Biografin Patricia Bosworth.

In den Zwillingen sah Arbus gleichzeitig Normalität im Bizarren und das Bizarre in der Normalität.

Genau dieses Spannungsfeld – zwei äußerlich identische Kinder, deren Persönlichkeiten sich jedoch deutlich spiegeln – macht das Foto so einprägsam.

Es inspirierte später sogar Filmschaffende

Die unheimlichen Zwillingsmädchen in Stanley Kubricks ‘The Shining’ etwa sollen von Arbus’ Foto beeinflusst worden sein, was die kulturelle Strahlkraft dieser Aufnahme unterstreicht.

Child with Toy Hand Grenade in Central Park, N.Y.C., 1962

Dieses Foto zeigt einen dünnen Jungen mit kurzen Hosen im sommerlichen Central Park.

Er steht allein auf dem Weg, ein Hosenträger hängt schief von seiner Schulter.

In seinen verkrampften Händen hält er eine Spielzeug-Handgranate, und sein Gesichtsausdruck wirkt nahezu manisch – Augen aufgerissen, Mund verkniffen. Diane Arbus hatte den kleinen Colin im Park herumlaufen sehen und mehrere Aufnahmen von ihm gemacht.

Erst als er ungeduldig wurde, drückte sie im genau richtigen Moment ab: Colin verzerrte das Gesicht – klick, und Arbus fing die explosive Mischung aus Kindlichkeit und Aggression in einer einzigen Pose ein.

Obwohl es sich nur um Plastikspielzeug handelt, evoziert die Granate eine schockierende Assoziation von Gewalt im Kinderzimmer.

Die Fotografin schuf hier ein Sinnbild für die verstörenden Untertöne im scheinbar Harmlosen.

Interessanterweise existieren von dieser Begegnung auch Fotos, die den Jungen entspannt lächelnd zeigen – Arbus aber wählte bewusst die drastischste Szene aus.

Das Ergebnis wurde legendär.

„Der Junge mit der Handgranate“ gilt als eines der berühmtesten Einzelbilder Arbus’.

Es steht symbolisch für die Zeit der frühen 60er

Während Colin mit Kriegs-Spielzeug posierte, eskalierte in der Realität der Vietnamkrieg.

Arbus selbst interessierte sich jedoch weniger für laute politische Statements; sie war fasziniert von der Psychologie des Moments.

Das Bild führt dem Betrachter drastisch vor Augen, dass in jedem Menschen – selbst in einem Kind – Abgründe und Wildheit schlummern können.

Bis heute bleibt dieser Foto-Moment im kollektiven Gedächtnis haften.

A Jewish Giant at Home with His Parents in the Bronx, N.Y., 1970

In einem bescheidenen Wohnzimmer im New Yorker Stadtteil Bronx stehen ein älteres Ehepaar und – zwischen ihnen überragend – ihr Sohn: Eddie Carmel, genannt „The Jewish Giant“.

Eddie war über 2,20 m groß und trat als Riese in Jahrmarkt-Shows auf.

Diane Arbus kannte ihn über Jahre und fotografierte ihn schließlich kurz vor seinem Tod in der elterlichen Wohnung.

Auf dem Foto beugt sich Eddie mit seinem massigen Körper zu den viel kleineren Eltern herunter, als wolle er ihnen zuhören.

Die Eltern blicken mit einer Mischung aus Stolz und Beklemmung zu ihrem Sohn auf.

Diese Szene wirkt zugleich intim familiär und surreal überhöht. Arbus fotografierte den Riesen als mythologische Gestalt, eingefangen im banalen Milieu eines typisch bürgerlichen Wohnzimmers.

Gerade diese Kontrastwirkung – der „Riese“ und seine zierlichen Eltern inmitten von Teppichboden und Stehlampe – macht das Bild so ikonisch.

Es war eines der persönlichen Lieblingsbilder der Fotografin; sie wählte es für ihr Portfolio “A Box of Ten Photographs” aus, die einzige Mappe, die sie zu Lebzeiten noch vorbereitete.

“A Jewish Giant” illustriert Arbus’ Fähigkeit, das Unfassbare ins Alltägliche zu holen.

Eddie Carmel erscheint zugleich als liebevoller Sohn und als Fremdkörper in der normalen Welt.

Das Bild wirft Fragen auf über Anderssein und Akzeptanz – Fragen, die das Werk von Diane Arbus insgesamt durchziehen.

Neben diesen drei berühmten Beispielen schuf Arbus zahlreiche weitere eindrückliche Bilder

Etwa von Drag Queens hinter den Kulissen, von nudistischen Familien in ihrer Freizeit oder von Clowns und Zirkusartisten.

Ein besonders humorvoller Einblick ist ihr Satz über die Nudisten:

„Es ist, als würden sie mehr Kleider tragen als andere Menschen“, kommentierte Arbus ironisch, nachdem sie nackt mit ihrer Kamera in einem Nudisten-Camp mitlief.

Sie entlarvte damit die Verkleidungen, die wir auch ohne Kleidung tragen – Manierismen und Posen.

Genau solche Einsichten machten ihre Fotografien so einzigartig.

Jedes ikonische Arbus-Bild erzählt eine ganze Geschichte über die Menschen darauf – oft eine Geschichte zwischen Befremden und Empathie.

Anekdoten aus Leben und Karriere

Die Persönlichkeit und Arbeitsweise von Diane Arbus haben über die Jahre hinweg viele Anekdoten hervorgebracht.

Einige kurze Geschichten beleuchten ihren Charakter und den Zeitgeist, in dem sie wirkte.

Der Rat des Reporters

Anfang der 1960er suchte Arbus aktiv nach Inspiration für ihre ungewöhnlichen Motive.

Sie rief den Schriftsteller Joseph Mitchell vom New Yorker an, dessen Reportagen über skurrile Gestalten sie bewunderte.

Mitchell warnte sie am Telefon davor, die sogenannten „Freaks“ zu romantisieren.

„Ich habe Diane geraten, Freaks nicht zu romantisch zu sehen. Freaks können genauso langweilig und gewöhnlich sein wie ‚normale‘ Leute“, erzählte Mitchell später.

Als Beispiel habe er Arbus von Olga, der bärtigen Dame, berichtet, die nichts lieber wollte als ein normales Leben als Sekretärin mit Geranien auf dem Fenstersims.

Arbus nahm diesen Rat ernst.

Sie suchte in ihren fotografierten Außenseitern nicht das Spektakel, sondern das Menschliche – gerade das Alltägliche im Bizarren interessierte sie.

Nackte Fotografin

Diane Arbus scheute vor nichts zurück, um Vertrauen zu ihren Sujets aufzubauen.

Bei einem Projekt über Nudisten fasste sie den Entschluss, ebenfalls die Kleidung abzulegen, während sie fotografierte.

Nur mit ihrer Rolleiflex-Kamera „bekleidet“ bewegte sie sich unter den Clubmitgliedern.

Diese ungewöhnliche Vorgehensweise zahlte sich aus: Die Menschen begegneten ihr mit Offenheit, als gehöre sie dazu, und Arbus gelang es, ungezwungene Szenen im Nudisten-Camp festzuhalten.

Die Anekdote verdeutlicht, wie weit Arbus bereit war zu gehen, um authentische Aufnahmen zu ermöglichen – sie stellte das Wohlergehen und die Natürlichkeit ihrer Modelle über die eigene Bequemlichkeit.

„Handgranate für ein Baby“

Nicht alle Zeitgenossen bewunderten Arbus’ schonungslose Porträts.

Der Schriftsteller Norman Mailer, den Arbus ebenfalls fotografiert hatte, reagierte mit Unbehagen auf ihr Werk.

Er scherzte bissig:

„Jemandem wie Diane Arbus eine Kamera zu geben, ist, als würde man einem Baby eine Handgranate geben“.

Dieses Zitat – halb im Spaß, halb im Ernst – zeigt die Befürchtung mancher, Arbus’ Blick sei gefährlich entlarvend.

Tatsächlich fühlten sich einige Prominente von ihrer Linse eher bedroht als geschmeichelt.

Mailers spitze Bemerkung trug aber nur weiter zum Mythos Arbus bei und bestätigt indirekt, wie durchdringend und kompromisslos ihre fotografische Sichtweise war.

Späte Ehrung durch den Bruder

Diane Arbus’ älterer Bruder Howard Nemerov, ein bekannter Dichter, stand seiner Schwester zeitlebens nahe.

Nach Arbus’ Tod fand er klare Worte, um ihre Motive zu beschreiben:  Sie habe Fotografien gemacht von „Freaks, professionellen Transvestiten, Kraftmenschen, tätowierten Männern, und Kindern der ganz Reichen“.

Diese Aufzählung klingt provokant, doch Nemerov meinte es nicht abwertend – er fasste lediglich Arbus’ Sujetpalette pointiert zusammen.

Tatsächlich gehören die Reichen und die „Freaks” beide zu Arbus’ Kosmos: Sie fotografierte Luxusladys und Außenseiter mit derselben schonungslosen Offenheit.

Nemerovs Worte wurden 2022 auf der Wand einer Ausstellung abgedruckt, als man Arbus’ Retrospektive von 1972 originalgetreu nachstellte.

So lebte der familiäre Blick auf Diane Arbus in der Kunstwelt weiter.

Diese Geschichten – vom entblößten Engagement für ihre Kunst bis zur kontroversen Reaktion der Porträtierten – zeichnen ein lebendiges Bild von Diane Arbus.

Sie war mutig bis zur Grenze des Exzentrischen, taktvoll und manchmal taktlos zugleich, und sie bewegte sich stets in einem Spannungsfeld zwischen tiefem Mitgefühl für ihre Motive und der harten Konfrontation der Zuschauer mit unbequemen Wahrheiten.

Warum Diane Arbus? Was wir von dieser kompromisslosen Künstlerin lernen können

  • Den Blick für das Verborgene schärfen: Arbus zeigt, dass wahre Kreativität oft dort beginnt, wo andere wegsehen. Sie lenkte ihre Kamera auf das „Unsichtbare“ – Menschen und Lebenswelten, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Von ihr können wir lernen, Neugier auf das Ungewohnte zu entwickeln. Ihre Fotos erinnern daran, dass jeder Mensch eine Geschichte trägt, die es wert ist, gesehen zu werden, selbst wenn sie auf den ersten Blick „anders“ oder unangenehm erscheint.

  • Empathie und Respekt vor dem Gegenüber: Trotz aller Kontroversen gibt es bei Arbus keinen blanken Voyeurismus; sie baute Beziehungen zu ihren Motiven auf. Ihre Porträtierten schauen meist direkt in die Kamera – ein Zeichen für das Vertrauen und die Zeit, die sie ihnen schenkte. Arbus machte keine heimlichen Schnappschüsse, sondern gab den Menschen Raum, sich zu präsentieren. Das lehrt uns, wie wichtig zwischenmenschlicher Respekt in der Porträtfotografie ist. Sie ging auf die Menschen zu, sprach mit ihnen, war „ein bisschen zu nett“, wie sie ironisch sagte, um ihnen die Angst zu nehmen. Empathie war ihr Werkzeug – eine Lektion, die über die Fotografie hinaus in jeden Umgang mit Menschen hineinwirkt.

  • Mut zur eigenen Vision: Diane Arbus hatte gegen beträchtlichen Widerstand zu kämpfen. Ihr Stil passte nicht in die ästhetischen Konventionen der 1960er; viele lehnten ihre Bilder zunächst ab. Doch Arbus blieb ihrer Vision treu – bis hin zur Selbstaufopferung. Ihr Lebenswerk ist ein Plädoyer dafür, künstlerische Überzeugungen konsequent zu verfolgen, auch wenn einen nicht jeder verstehen mag. Sie sprengte Grenzen des Geschmacks und definierte damit neue Möglichkeiten für die Fotografie. Dieser Mut, gegen den Strom zu schwimmen, kann allen kreativen Menschen als Beispiel dienen.

  • Die Kraft des Authentischen: Technik und Handwerk waren für Arbus stets Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck. Sie wechselte 1962 zu einer Mittelformat-Rolleiflex-Kamera, weil das quadratische Bildformat und der Lichtschachtsucher besser zu ihrer Arbeitsweise passten. Durch den Sucher auf Brusthöhe konnte sie Augenkontakt mit ihren Modellen halten, statt sich hinter der Kamera zu „verstecken“. Diese bewusste technische Wahl diente der Authentizität ihrer Bilder. Von Arbus können wir lernen, unsere Methoden der Aussage unterzuordnen: Die ehrlichste Darstellung des Sujets sollte immer wichtiger sein als technischer Perfektionismus. Wie Arbus selbst es formulierte, liegt eine gewisse Schönheit im Unperfekten und Ungekünstelten – denn es kommt der Wahrheit oft näher.

Sich mit Diane Arbus zu beschäftigen, heißt also, über Norm und Abweichung, über Wahrheit und Täuschung und über die Verantwortung des Künstlers nachzudenken.

Ihre Bilder fordern uns heraus – emotional, moralisch, ästhetisch.

Genau darin liegt ihr Wert. Sie laden dazu ein, die Welt mit anderen Augen zu sehen: urteilsfreier, aufmerksamer für das, was unter der Oberfläche liegt. In einer Gesellschaft, die immer noch allzu gern in „wir“ und „die anderen“ einteilt, kann Arbus’ Werk ein Anstoß sein, diese Trennlinien zu hinterfragen.

Die Beschäftigung mit Diane Arbus lohnt sich, weil sie uns lehrt, das Menschliche im Ungewohnten zu erkennen – und vielleicht auch, das Ungewohnte im scheinbar ganz Normalen zu akzeptieren.

Ressourcen für eine tiefere Auseinandersetzung

Biografien und Monografien

Patricia Bosworth: „Diane Arbus – A Biography“* (1984) – die erste große Biografie, basierend auf vielen Zeitzeugengesprächen.

Arthur Lubow: „Diane Arbus – Portrait of a Photographer“* (2016), ein über 700 Seiten starkes Standardwerk mit vielen Details aus Arbus’ Lebensgeschichte.

Für einen schnellen Einstieg in die Bilderwelt eignet sich „Diane Arbus – Die Monographie“* (herausgegeben von Doon Arbus), die auch auf Deutsch erschien.

Dieser Bildband versammelt die bekanntesten Fotos und ergänzt sie mit Texten und 15 Seiten Originalzitaten Arbus’ – ideal, um Arbus’ Gedankenwelt nachzuspüren.

Interviews und eigene Worte

Da Diane Arbus nur wenige Male öffentlich sprach, ist jedes erhaltene Wort kostbar.

Ein Höhepunkt ist die Tonaufnahme eines Vortrags, den sie 1970 an der Rhode Island School of Design hielt.

Diese „Lecture“ wurde 2011 im Rahmen von “An Evening with Diane Arbus” wieder zugänglich gemacht.

Darin hört man Arbus’ eigene Stimme, wie sie über ihre Fotos spricht – ein bewegendes Dokument (auf Englisch).

Ebenfalls spannend: Ein Radio-Interview aus dem Jahr 1968, das im Archiv von WNYC erhalten ist.

Darin spricht Arbus unter anderem über ihre Einstellung zur Frauenbewegung und darüber, wie es ist, als zweifache Mutter gleichzeitig Fotografin zu sein.

Solche Originalquellen geben einen unverfälschten Eindruck von Arbus’ Persönlichkeit.

Dokumentationen

Kurz nach ihrem Tod entstand die TV-Doku “Masters of Photography: Diane Arbus” (1972).

Dieser 30-minütige Film – heute online verfügbar – enthält Interviews mit Menschen, die Arbus nahe standen: ihrer Tochter Doon, ihrer Lehrerin Lisette Model, ihrem Freund und Mentor Marvin Israel sowie MoMA-Kurator John Szarkowski.

Sie schildern aus erster Hand, wie Diane Arbus arbeitete und lebte.

Ergänzend dazu bietet die Doku “Going Where I’ve Never Been: The Photography of Diane Arbus” (ebenfalls 1972) weitere Einblicke; darin ist u.a. Arbus’ eigene Foto-Auswahl zu sehen.

Außerdem lohnt sich die NDR-Radiodokumentation “Diane Arbus: Von der Glitzerwelt ins düstere Amerika” (2013), die kompakt Arbus’ Werdegang nachzeichnet und einige O-Töne bietet.

Ausstellungen

Wer die Möglichkeit hat, Originalabzüge von Diane Arbus zu sehen, sollte dies unbedingt tun.

Arbus’ Fotos haben eine ganz eigene Aura im Großformat.

Ihre Werke sind in vielen Museumssammlungen vertreten, u.a. im Museum of Modern Art, im Metropolitan Museum of Art (New York) und in der Sammlung der Deutschen Börse Photography Foundation.

Letztere zeigte Arbus’ Arbeiten etwa 2022 in der Ausstellung “Cataclysm: The 1972 Diane Arbus Retrospective Revisited”, die gemeinsam mit der Fraenkel Gallery organisiert wurde.

Auch in Deutschland gab es bedeutende Retrospektiven, z.B. 2012 im Martin-Gropius-Bau Berlin.

Artikel

Fazit

Diane Arbus hinterließ ein vergleichsweise überschaubares Œuvre (rund 100 bekannt gewordene Bilder, viele davon ikonisch).

Doch die Wirkung dieses Werks ist riesig.

Sich weiter mit ihr zu befassen – sei es durch Bücher, Filme oder den direkten Blick auf ihre Fotografien – heißt, in einen Dialog mit einer Meisterin der Fotografie einzutreten.

Ihre Arbeiten fordern uns heraus und bereichern unseren Blick auf die Menschen am Rande wie im Zentrum der Gesellschaft. Genau darin liegt der unschätzbare Wert dieser außergewöhnlichen Künstlerin.


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Kai Behrmann

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Fotojournalist zwischen zwei Welten: Fritz Schumann auf den Spuren des unbekannten Japan