Street Photography: Dein Bolzplatz für die Reportagefotografie

Street Photography bietet uns eine Fülle von Techniken und Fähigkeiten, die in der Reportagefotografie von unschätzbarem Wert sein können. Sie ermöglicht es uns, unsere Beobachtungsgabe zu schärfen, schnelle Reaktionen zu entwickeln, Kompositionsprinzipien zu beherrschen, mit Menschen umzugehen, erzählende Bilder zu erstellen und unsere technischen Fähigkeiten zu verbessern.

Im Folgenden bekommst du einen kleinen Vorgeschmack auf das, was du auf der Straße alles für die Reportage lernen kannst.

Beobachtungsgabe

Streetfotografen wie Joel Meyerowitz sind Meister der Beobachtung. Sie haben die Fähigkeit, interessante Momente und visuelle Geschichten im Alltag zu erkennen.

Meyerowitz sagte einmal:

Ich denke, die größte Qualität, die ein Fotograf haben kann, ist, dass er wirklich sieht, was vor seinen Augen ist.

Diese Fähigkeit, den richtigen Moment einzufangen, ist auch in der Reportagefotografie von entscheidender Bedeutung. Du musst in der Lage sein, wichtige Momente und Ereignisse zu erkennen und sie in deinen Bildern festzuhalten, um die Geschichten zu erzählen, die du dokumentieren möchtest.

Es kommt aber keineswegs nur darauf an, die ganz besonderen Momenten zu erkennen. Oft sind es gerade die banalen Dinge, die unglaubliches fotografisches Potenzial bergen.

Streetfotografen wie William Eggleston sind Meister der Beobachtung von Dingen, die die meisten durch Gewohnheit und Routine gar nicht mehr registrieren.

Er ermutigt uns, die Schönheit und Bedeutung im scheinbar Gewöhnlichen zu entdecken:

Ich fotografiere das Alltägliche. Das, was niemand sonst interessiert.
— William Eggleston

Gary Winogrand betonte ebenfalls die Bedeutung der Beobachtung und sagte:

Ich fotografiere, um zu sehen, wie etwas aussieht, wenn es fotografiert wurde.
— Gary Winogrand

Indem wir bewusst wahrnehmen und auf Details achten, können wir fesselnde Geschichten in unseren Bildern einfangen.

Diese Fähigkeit, die gesamte Umgebung wahrzunehmen – gerade auch abseits des Ortes, wo Protagonisten agieren – ist fundamental dafür, die Geschichte deiner Reportage spürbar für die Betrachter zu machen:

  • Welche abseitigen Objekte charakterisieren den Ort und die Protagonisten?

  • Gibt es Nebendarsteller, die ebenfalls wichtig für die Geschichte sind?

  • Was sagt ein Detail über das große Ganze aus?

Schnelle Reaktion

In der Street Photography musst du oft schnell handeln, um den perfekten Moment einzufangen. Henri Cartier-Bresson, einer der Pioniere der Street Photography, prägte den Begriff „entscheidender Moment“.

Er sagte:

Fotografie ist eine intuitive, spontane Handlung für mich, ein ständiges Wachsamsein ohne Schlaf oder Pause.
— Henri Cartier-Bresson

Henri Cartier-Bresson war berühmt dafür, in Bruchteilen einer Sekunde den Auslöser zu drücken, um den entscheidenden Moment einzufangen. Schnelle Reaktionen sind auch in der Reportagefotografie gefragt, um dynamische Szenen und wichtige Ereignisse festzuhalten. Ebenso wie beim Fotografieren im urbanen Raum, wiederholen sich auch die Szenen in einer Reportage in der Regel nicht. Daher gilt: Je schärfer dein Blick und je flinker deine Reaktion – desto besser.

Komposition

Streetfotografie bietet zahlreiche Möglichkeiten, Kompositionsprinzipien zu üben und zu meistern. Henri Cartier-Bresson war bekannt für seine sorgfältige Komposition und die Fähigkeit, Linien und Muster zu nutzen, um ansprechende Bilder zu schaffen. In einem Interview in den Buch "Man redet immer zu viel: Gespräche über das Leben, die Kunst, und die Photographie (1951 – 1998)"* sagte er:

Der Inhalt, der so wichtig ist, muss auch in den Aufbau einfließen, damit seine Wirkung eben nicht von einer schlechten Form beeinträchtig wird.
— Henri Cartier-Bresson

Die Einheit von Form und Inhalt ist das Ziel. Es sollte eine Balance zwischen beiden herrschen. Denn Vorsicht: Wenn das Verhältnis nicht stimmt, kann das laut Henri Cartier-Bresson negative Folgen auf die gewünschte Bildwirkung haben:

Das Malheur bei sehr vielen ‚Salon Photographien‘ und bei sehr vielen ‚schönen‘ Photographien liegt darin, dass sie oft nur in der Form schön sind, aber ganz leer und ausdruckslos.
— Henri Cartier-Bresson

Die Gabe, visuell ansprechende Bilder zu gestalten, kann dir in der Reportage dabei helfen, ästhetische und ausdrucksstarke Bilder zu erstellen, die die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich ziehen. Achte aber immer darauf, dass du bei aller Hingabe zur Form nicht den Inhalt aus den Augen verlierst.

Umgang mit Menschen

Street Photography erfordert oft den Umgang mit unvorhergesehenen Situationen.

Joel Meyerowitz brachte dies treffend auf den Punkt:

Eine Kamera zu tragen, ist wie eine Freikarte für das Unerwartete.

Das Unerwartete schließt den Umgang mit Menschen auf der Straße ein. Dieser kann sowohl direkt als auch indirekt sein.

Du solltest dir daher stets der Bedeutung des Respekts und des Einfühlungsvermögens gegenüber den Menschen bewusst sein, die du fotografierst. Wenn du keine Empathie hast, dann werden die Menschen das spüren und es dich wissen lassen – durch ihre Mimik und Gestik oder sogar durch verbale Unmutsäußerungen.

Diese Fähigkeit, mit Menschen zu interagieren und ihr Vertrauen zu gewinnen, ist auch in der Reportagefotografie zentral. Ohne die nötigen „soft skills“ wird es schwer, Menschen und ihre Geschichten authentisch zu fotografieren.

Erzählende Bilder

Streetfotografie ermöglicht es dir, Geschichten durch Bilder zu erzählen. Henri Cartier-Bresson war bekannt für seine Fähigkeit, Momente einzufangen, die eine Geschichte erzählen. Er prägte den Begriff des „entscheidenden Moments“ und sagte:

Fotografieren bedeutet, den Kopf, das Auge und das Herz auf dieselbe Visierlinie zu bringen.
— Henri Cartier-Bresson

Der Haken daran: Einzelbilder werfen nur ein Schlaglicht auf eine Szene. Für einen Wimpernschlag geht das Licht an. Dann wird es wieder dunkel. Der Kontext fehlt. Es bleibt bei der Andeutung. Der Fotograf legt Spuren, die der Betrachter entschlüsseln muss.

Magnum-Fotograf Alec Soth beschreibt es so:

Photographs are not good at telling stories. Stories require a beginning, middle and end. They require the progression of time. Photographs stop time. They are frozen. Mute.
— Alec Soth

Doch genau in ihrer Beschränktheit besteht auch der Reiz der Fotografie. Und die Herausforderung für uns als visuelle Geschichtenerzähler:in. Gerade, wenn wir Geschichten mit einem einzigen Bild erzählen möchten.

Joel Sternfeld drückte die zwiespältige Faszination der Fotografie einmal wie folgt aus:

You take 35 degrees out of 360 degrees and call it a photo. No individual photo explains anything. That’s what makes photography such a wonderful and problematic medium.
— Joel Sternfeld

Je komplexer das Thema, desto schwieriger wird es, dies in die Grenzen eines Rechtecks zu zwängen. Das ist so, als wolle man einen Roman auf einer Seite niederschreiben. Eine Kurzgeschichte lässt sich indes auch in wenigen Zeilen verfassen.

Sei dir daher immer der Möglichkeiten und Beschränkungen des Mediums bewusst. Fotografie ist gut darin, Dinge zu zeigen – nicht aber darin, sie zu erklären. Das gilt umso mehr dann, wenn wir in Einzelbildern kommunizieren. Bildstrecken, zum Beispiel als Reportage, bieten uns indes die Möglichkeit, ein bisschen mehr Kontext zu schaffen.

Du kannst die Street Photography als Sketchbook betrachten. Du zeichnest darin Skizzen, die für sich alle Elemente einer kleinen Geschichte enthalten. Gleichzeitig ist lassen sie aber vieles offen. Oft liegt in ihnen aber das Potenzial, sie zu einer komplexeren Story auszuarbeiten.

Technisches Können

Street Photography bietet eine Möglichkeit, technische Fähigkeiten zu verbessern. Du musst deine Kamera beherrschen, die Belichtung richtig einstellen, den Fokus schnell und präzise setzen und gegebenenfalls Bildbearbeitungstechniken anwenden.

Durch die Streetfotografie kannst du dein technisches Können schärfen und in verschiedenen Situationen mit unterschiedlichen Anforderungen schnell und effektiv arbeiten. Dieses technische Wissen und Können sind auch in der Reportagefotografie unerlässlich, um Bilder von hoher Qualität zu liefern.

Die Street Photography dient als Übungsfeld und Spielwiese, um die eigene fotografische Vision zu entwickeln und die erforderlichen Fähigkeiten für die Reportagefotografie zu erlernen. Du bist frei. Der Einsatz ist nicht besonders hoch. Wenn etwas nicht klappt, dann hast du ein Foto verpasst – aber eine Menge gelernt, was du beim nächsten Mal besser machen kannst.

Fazit

Wie Henri Cartier-Bresson sagte:

Deine erste 10.000 Fotos sind deine schlechtesten.

Es erfordert Übung, Ausdauer und Hingabe, um sich als Fotograf:in weiterzuentwickeln und seine Fähigkeiten zu verfeinern. Die Street Photography bietet eine ideale Plattform, um genau das zu tun.

Worauf wartest du also? Schnapp dir deine Kamera und gehe raus auf die Straßen.

Street Photography und Reportagefotografie sind zwei spannende Fotografie-Genres, die sich gegenseitig ergänzen können. Die Fähigkeiten, die in der Streetfotografie entwickelt werden, sind von unschätzbarem Wert für die Reportagefotografie.

Durch die Beobachtungsgabe, die schnelle Reaktion, die Beherrschung von Kompositionsprinzipien, den Umgang mit Menschen, die Erstellung erzählender Bilder und die Verbesserung des technischen Könnens kannst du deine Herangehensweise und dein Gespür verbessern, einzigartige visuelle Geschichten erzählen.

Damit du dich auf dem Bolzplatz „Straße“ so richtig austoben kannst, geben wir dir in der Artikel-Reihe „Fotografische Fleißaufgaben“ regelmäßig Tipps und Inspiration.

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